Am 3. April 1945 wurde das niederösterreichische Gloggnitz im zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee befreit. Dort lebte der frühere Staatskanzler Karl Renner, ein 75-jähriger Sozialdemokrat, der sich als erfahrener Politiker beim sowjetischen Generalkommando meldete und anbot, bei der Wiedererrichtung der Demokratie in Österreich mitzuhelfen. Am 15. April wandte er sich in einem persönlichen Brief direkt an den Kreml-Machthaber Josef Stalin, wobei er auf seine Erfahrungen bei der Gründung der Ersten Republik 1918/19 hinwies. Vier Tage später fuhr Renner nach Wien, um die Geschicke mit Unterstützung Stalins in die Hand zu nehmen. Hier hatte sich bereits am 14. April im Rathaus die SPÖ unter ihrem provisorischen Vorsitzenden Adolf Schärf gegründet. Und am 17. April konstituierte sich im Schottenstift die ÖVP unter Leopold Kunschak. Ab 20. April fanden in der Hietzinger Villa Blaimschein Verhandlungen zur Bildung der Provisorischen Regierung statt.
Die Unabhängigkeitserklärung
Am 27. April 1947 wurde die von Karl Renner konzipierte Unabhängigkeitserklärung veröffentlicht. In dieser Proklamation von Karl Renner sowie Adolf Schärf (SPÖ), Leopold Kunschak sowie Josef Kollmann (ÖVP) und Ernst Fischer sowie Johann Koplenig (KPÖ) wurde die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich postuliert. Der „im Jahre 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungene Anschluss“ an Hitler-Deutschland wurde als „null und nichtig“ erklärt. Noch am selben Tag konstituierte sich die aus 29 Mitgliedern bestehende Provisorische Regierung unter Staatskanzler Karl Renner. Zehn Vertreter kamen von der SPÖ, neun von der ÖVP, sieben von der KPÖ, drei waren Unabhängige. Drei Staatssekretäre ohne Portefeuille (Schärf, Figl und Koplenig) standen Renner zur Seite. Dieses Kabinett umfasste nach den Worten von Karl Renner „alle antifaschistischen Parteien“. Am 28. April gab der Staatskanzler seine Regierungserklärung ab. Am 1. Mai trat die Bundesverfassung von 1920 in Kraft.
Die Kapitulation Deutschlands
Formell endete der Zweite Weltkrieg erst am 8. Mai 1945 mit der Kapitulation von Hitler-Deutschland. Die Provisorische Regierung Renner wurde zunächst nur von der Sowjetunion anerkannt und ihr Wirkungsbereich erstreckte sich bloß auf die sowjetisch besetzten Bundesländer Niederösterreich und Burgenland sowie auf den sowjetisch besetzten Teil der Steiermark. Also schrieb Karl Renner einen Brief an die Regierung der USA, in dem er die Eigenständigkeit seines Kabinetts betonte, das kein Erfüllungsgehilfe der Sowjets sei, wiewohl von diesen eingesetzt. Die Amerikaner misstrauten nämlich zunächst der Regierung Renner. Das wusste der Staatskanzler und vermied es konsequent, sich in Abhängigkeiten der Sowjets zu begeben. In den ersten Ministerratssitzungen trat er gegenüber den kommunistischen Regierungsmitgliedern betont selbstbewusst und durchsetzungsstark auf. Der damalige kommunistische Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka erzählte später, Renner sei noch schlauer als Stalin gewesen: „Stalin war bestimmt schlau bis zum Verbrechen. Aber Renner war schlauer und hat den Stalin ‚überringelt‘“.
Am 29. April hatte Radio Wien bereits seinen Sendebetrieb mit der Verkündigung des Regierungsprogramms von Karl Renner aufgenommen. Im zerbombten Wien begann sich das gesellschaftliche Leben nach den großen Verlusten im Zweiten Weltkrieg langsam wieder zu normalisieren. 1,2 Millionen österreichische Soldaten hatten in der Deutschen Wehrmacht gekämpft. 247.000 waren gefallen, nahezu 490.000 gerieten in Kriegsgefangenschaft. Darüber hinaus gab es fast 124.000 zivile Opfer zu beklagen. Von den etwa 200.000 österreichischen Juden konnten etwa 120.000 vor den Nazis fliehen, 70.000 Juden sowie etwa 10.000 Roma und Sinti wurden in Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet. Nur wenige überlebten den Naziterror.
Die erste Nationalratswahl
Am 25. November 1945 fand die erste freie Nationalratswahl seit 1930 statt. Auf die ÖVP entfielen 85, auf die SPÖ 76 und auf die KPÖ 4 Mandate. Erster Bundeskanzler der Zweiten Republik wurde Leopold Figl (ÖVP). Und Karl Renner (SPÖ) wurde am 20. Dezember 1945 von der Bundesversammlung zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt. Das blieb er bis zu seinem Tod am 31. Dezember 1950. Die „Lagerstraße“ bezeichnete die damalige Politikergeneration, womit die in den Konzentrationslagern der Nazis entstandene Kameradschaft der in der Ersten Republik verfeindeten Konservativen, Sozialdemokraten und Kommunisten gemeint war. Jetzt bauten die einstigen Gegner gemeinsam die Zweite Republik auf, die eine Erfolgsgeschichte werden sollte.
Weitsichtige Worte von Karl Renner
Der Staatsmann Karl Renner, der 80 Jahre alt wurde und als Staatskanzler am Beginn der Ersten wie auch der Zweiten Republik eine tragende politische Rolle spielte, sprach am 22. Oktober 1946 beim Festakt „950 Jahre Österreich“ kluge Worte, die heute mehr denn je bedacht werden sollten: „Das Ergebnis des Ersten und insbesondere des Zweiten Weltkrieges hat sonnenklar gezeigt, dass die Völker nicht nur Europas, sondern der ganzen Erde zusammen wirtschaften müssen und dass die nationalstaatliche Souveränität sich beugen muss vor dem Willen der Völkergemeinschaft, wenn der Menschheit ein Heil erblühen soll.“ Und er setzte fort: „Das Zeitalter der Bildung souveräner Nationen im Wege des Krieges ist abgeschlossen. Es gehört einem anderen Jahrhundert an. Heute stehen wir unter dem Gesetz der Weltstaatbildung, der Souveränität der Staatenfamilie, und Völker, die diesem Gesetz widerstreben, geraten unter das Rad der Entwicklung.“
Renner sprach vom „katholischen Universalismus“ sowie von der „Idee des Internationalismus“ in der Arbeiterschaft und definierte die Staatsidee des österreichischen Volkes so: „Sie ist kein Rassenaberglaube, sondern bewusste Duldung und Anerkennung jeder Eigenart, welch’ anderen Landes und anderer Herkunft sie sei. Sie beruht nicht auf Selbstüberschätzung, auf Verhimmelung einer gewiss ruhmreichen und doch schicksalhaften Vergangenheit, sondern auf nüchterner Feststellung des geschichtlich Gewordenen.“ Dem diplomatischen Geschick von Karl Renner, seiner Erfahrung und seinem Weitblick hat Österreich viel zu verdanken. Darin sind sich die Historiker einig.