Story

Marseille: Kulinarische Höhenflüge mit Adrenalinkick

Abenteuertage in Marseille. Auf der Suche nach den besten ­Geschmäckern. Und nach einer Portion Sicherheit.
Mann im Schutzanzug isst, hinter ihm Feuer auf der Straße
Zwischen Genusshimmel und Straßendemos: eine abenteuerliche Reise nach Marseille

Während ich in der Mercerie gerade meine erste Vorspeise bewunderte, die aus Melonenstücken, Ricotta, einer wundervollen salzigen Melonencreme, Orangenzesten und Zitronenbasilikum bestand, hörte ich draußen die ersten Detonationen. Zugegeben, Detonation ist ein eher großes Wort in einer Gegenwart, die uns permanent erwachsene Detonationen in die Wohnzimmer zoomt, Ukraine, Gaza, Beirut. Im Vergleich dazu hörten sich die Explosionen, die ich auf den Straßen von Marseille hörte, wie die Anlaufzeit für ­einen ausgelassenen Silvesterabend an, obwohl es nicht Silvester war, sondern Hochsommer.

Himmel und Hölle

Ich saß im Inneren des Restaurants, deshalb nahm ich den Krach auf der Straße gar nicht wirklich wahr. Ich freute mich über das Tatar vom Beef, das jetzt serviert wurde, mit dem Messer geschnitten, gewürzt mit Kapern, gehackten Essiggurken, fermentierten Senfkörnern und vermischt mit, was der Hammer war, einer gehackten Auster. Selten habe ich ein Tatar so genossen. Jeder Bissen nahm mich mit auf einen neuen Ausflug in den mindestens vierten Geschmackshimmel.

Eigentlich ärgerte ich mich, dass ich keinen Tisch im Garten bekommen hatte. Die Mercerie liegt am Cours Saint-Louis, nur ein paar Gehminuten vom Vieux Port entfernt, und von den kleinen Tischen auf der Restaurantterrasse hat man einen netten Blick auf den Boulevard und die benachbarte Fußgängerzone.

Ich sah, dass draußen einiges los war. Menschengruppen zogen durch die Stadt. Ich hörte Sprechchöre, Trillerpfeifen und immer wieder diese Explosionen. Sie stammten von Knallkörpern, die auf die Straße geworfen wurden. Noch immer hatte ich keine Ahnung, was draußen auf der Straße tatsächlich los war. Ich dachte, es könnte ein Fußballspiel stattgefunden haben oder ein Volksfest.

Die Menschen, die draußen auf der Terrasse saßen, ließen sich nicht stören, also widmete auch ich mich meinem Zwischengang, fingerkleinen Zucchini, die im Big Green Egg gegrillt worden waren, und mit Dille, gelben Kirschen, Pecorino und einer Pinienkerncreme serviert wurden. Es war ein überzeugender Gang, so wie die Vorspeisen auch. Ich war zufrieden mit der Wahl des Lokals, mit der Wahl des Weins (eines provenzalischen Weißen) und mit der Qualität der Speisen. Gerade stand der Teller mit dem Hauptgericht vor mir, ein Pulpo mit grünen und weißen Bohnen und Jalapeños, cremig, würzig, rauchig, kurz: sechster Geschmackshimmel, als mein Handy ­vibrierte. Meine Volvo-App informierte mich darüber, dass mein Auto angeblich offen sei.

Das irritierte mich. Ich hatte das Auto selbst in die Garage gefahren, die zum Grand Hôtel Beauvau gehört, wo ich abgestiegen war, und ich war sicher, es versperrt zu haben. Ich ignorierte also die Warnung und ­beschloss, nach dem Dessert einen Abstecher in die Tiefgarage zu machen, um nach dem Rechten zu sehen. 

Zurück auf die Straßen

Das Dessert bestand aus einer Mandelmilch-Pannacotta, die zart und samtig und einschmeichelnd war, einer Granita vom Hibiskus, pink und wild und säuerlich, dazu Himbeeren und Kirschen. Es war die perfekte Mahlzeit, und wie immer, wenn ich der Kunst begegne, Subtilität, Frische und „Yummie“ auf einen Teller zu bringen, war ich ein bisschen glücklich. Satt, das auch, plus glücklich. Die Musik war laut, irgendwelcher Elektropop, der mir gerade Spaß machte. Ich fühlte mich wohl in dem Kokon, den gute Gas­tronomie um ihre Gäste spinnt, und dachte erst, als ich gezahlt und aufgestanden war, wieder an das Leben auf der Straße, das vom Soundingenieur der Mercerie geschickt übertönt worden war.

Auf der Terrasse saß niemand mehr. Es roch nach Pulver und Rauch. Auf der Straße waren vor allem junge Männer unterwegs, in Rudeln, ein bisschen einschüchternd. Ein paar versprengte Touristen drückten sich an den Schaufenstern der Geschäfte vorbei. Aus dem Off Polizeisirenen. Irgendwo raste ein Wagen mit Blaulicht vorbei. Mistkübel waren ausgeleert, ihr Inhalt auf die Straße verteilt worden. 

Dann sah ich Flammen. Ein Müllcontainer lag auf der Seite und brannte. Es roch beißend nach Rauch und Dreck. Erst jetzt begriff ich, dass hier nicht irgendwelche Fußball-Hooligans unterwegs waren, sondern Demonstranten, die einmal mehr gegen die Politik von ihrem Staatspräsidenten opponierten. Macron ist in Marseille ungefähr so beliebt wie ein Schluck Wasser bei einer Weinverkostung in Bordeaux, und ich erinnerte mich schlagartig an die Probleme, die in Marseille in den letzten Jahren immer wieder auf der Straße verhandelt wurden: Rassismus, Diskriminierung, Polizeigewalt. Ein gutes Viertel der Bewohner der Hafenstadt hat Wurzeln in Nordafrika. Die Arbeitslosenquote liegt bei 40 Prozent. 

Gerade in den nördlichen Vierteln der Stadt, wo die arabische Bevölkerung lebt, hat der organisierte Drogenhandel längst die Macht übernommen. Kriminalität ist eine Aufstiegschance, kein Makel.

Kognitive Dissonanz

Als ich in die Parkgarage hinunterstieg, war mir ein bisschen mulmig zumute. An einen willkürlichen Alarm der App wollte ich nicht mehr glauben. Als ich zu meinem Auto kam, sah ich schon das eingeschlagene Fenster. Ein Koffer, den ich, fahrlässig genug, im Auto gelassen hatte, lag aufgerissen und durchwühlt auf dem Rücksitz. Ich schloss das Auto wieder zu, Sicherheitsstufe drei, ich weiß, und suchte den Typen, der die Garage bewachte. Dabei stieg ich überall auf Glasscherben. Praktisch alle Autos mit einem ausländischen Kennzeichen hatten eingeschlagene Seitenscheiben. Der Security-Typ war megainteressiert, als ich ihm vom Vorfall ein Stockwerk tiefer erzählte. „Und was soll ich jetzt tun?“, fragte er mit ironischer Würde, und ich kann ihm gar keinen Vorwurf machen, denn was sollte er tatsächlich tun? Jedenfalls brüllte er plötzlich laut „Hey!“ und rannte zwei Teenagern hinterher, die sich gerade davonmachen wollten. Keine Ahnung, ob es meine Einbrecher waren oder irgendwelche andere, die den Wirbel auf der Straße nutzten, um Touristenautos auszuräumen.

Doch, ein bisschen durch den Wind war ich schon, als ich durch immer dichtere Gruppen von Jugendlichen bei meinem Hotel ankam, dessen Eingang von zwei Security-Gorillas bewacht wurde. Die drängende Frage, wo ich mein offenes Auto in Sicherheit bringen könnte, ergab nach ein paar Telefonaten, dass im Sofitel ­Vieux Port noch ein bewachter Platz frei sei. Ich holte also, zusehends besorgt, mein Auto und begab mich auf eine veritable Geisterbahnfahrt. Po­lizeiautos blockierten den direkten Weg. Ich musste mich durch die Gassen schlängeln, überall Männer, überall Feuer, zum Beispiel sah ich den ersten brennenden Lieferwagen meines Lebens, schwarz gekleidete Polizeieinheiten mit Helmen und Schildern rückten an, und ich, wusste ich, wo ich gerade war? Nur so viel: zur falschen Zeit am falschen Ort.

Aber ich schaffte es mit dem Auto in die bewachte Garage, und ich schaffte es auch zu Fuß zurück in mein Hotel, und als ich mir aus der Minibar noch ein Bier pflückte, um mich ein bisschen zu beruhigen, überlappten sich die Eindrücke des großartigen Abendessens und seiner ­verstörenden Begleitumstände, und zwischen den Bildern der zum Kampf entschlossenen Jugendlichen und der bis an die Zähne bewaffneten Polizisten schob sich das Bild des mit einer Auster verfeinerten Tatar vor mein Auge, geradezu als Metapher für die kognitive Dissonanz, in der wir Kulinariker unserer Leidenschaft nachgehen, während es andernorts knallt, in diesem Fall eben nicht irgendwo weit weg, sondern direkt vor der Haustür.

Marseille von seinen schönen Seiten

Am nächsten Morgen war es ruhig. Vom Frühstücksraum des Beauvau aus sah ich die ausgebrannten Lokale am Alten Hafen. Die Korbmöbel, in denen man sonst aufs Wasser hinausschaut und einen Pastis einnimmt, waren zu Gerippen verkohlt. Als ich mich in der nahen Fußgängerzone umsah, waren zahlreiche Schaufenster eingeschlagen. In der Zeitung las ich später, dass es Plünderungen gegeben hatte. Ich hatte mir vorgenommen, wegen der eingeschlagenen Scheibe an meinem Auto eine Anzeige bei der Polizei zu machen, aber als ich mich dem Kommissariat an der berühmten Cannabière näherte, sah ich, dass auch auf sie ein Brandanschlag verübt worden war. Ich drehte um. Mit einem eingeschlagenen Au­tofenster konnte ich mich heute brausen gehen.

Dann geschah etwas Bizarres und irgendwie auch Wundervolles. Der Tag, der so schräg begonnen hatte, schüttelte sich und verströmte plötzlich: Normalität. Die Sonne, das Licht, der Duft des Meeres, und ich streunte beseelt durch das Quartier du Panier, das vielleicht pittoreskeste Viertel der Stadt, schaute mir in der „Maison de la Boule“ die besten Pétanque-Kugeln an, die es auf der Welt gibt, kam an der Place des Pistoles vorbei, wo die berühmte TV-Serie Plus belle la vie spielt, Galerien, kleine Restaurants, Buffets, viele Gassen voller Pflanzentöpfe, die von den Bewohnern einfach auf die Straße ­gestellt werden, ein beseelendes Auf und Ab, das manchmal in all seiner kleinteiligen Buntheit zu Orten führt, die plötzlich Übersicht gewähren, zum Beispiel von der Place de Lenche auf die Kathedrale Notre-­Dame de la Garde.

Ich ließ mich ins benachbarte Stadtviertel Noailles treiben, einen Knotenpunkt der Geschäftigkeit. Gemüsehändler, Gewürzhändler, Handwerker, winzige Küchen, bunte Möbel, enge Gassen, kein Durchkommen für Automobile, der Blick in die Häuserschluchten mit den von Fassade zu Fassade gespannten Wäscheleinen und wehenden Unter­hosen, exakt deckungsgleich mit den Bildern, die hier in den Dreißiger- und Vierzigerjahren geschossen wurden. In der Épicerie l’Idéal nahm ich ein kleines Mittagessen ein, ein paar Artischocken, geschmortes Gemüse. Ich saß auf einem Kinderstuhl draußen auf der Straße, trank ein Glas Wein dazu und fand das Getümmel und die Hast und die ­Mopeds, also die Normalität in dieser Stadt, enorm tröstlich.

Abendessen im Regain

Am Nachmittag besuchte ich das Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée am Alten Hafen, das „Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeeres“. Nicht nur der Bau, auch die Ausstellung ist überwältigend. Ich saß anschließend noch lange auf der Terrasse des von Rudy Ricciotti entworfenen Gebäudes und blickte durch das gestalterische Geflecht, das das „Mucem“ einhüllt, hinunter aufs Meer, auf seine Spiegelungen, seine sich ständig verändernden Farben. 

Und natürlich dachte ich darüber nach, wo ich mein Abendessen einnehmen würde. Das war eine heikle Frage, denn für das Stadtzentrum waren für den Abend neuerlich Unruhen prognostiziert. Zwar hatte die Stadtverwaltung die U-Bahn-Linien ins Zentrum eingestellt und die Stationen verbarrikadiert, um die Anreise zum Alten Hafen zu erschweren, zur Sicherheit hatten aber auch zahlreiche Geschäfte und Restaurants zugesperrt, die Schaufenster vernagelt und die gesamte Hafengegend in eine Festung verwandelt.

Ich stand also vor der Abwägung folgender Werte: Entweder ein Stück abseits des Hafens essen oder mich mit einer Flasche guten Rotweins, Brot und Käse im Hotel verschanzen. Natürlich entschied ich mich nach schwierigen Abwägungen, aber vor allem deshalb, weil das Limmat sich an diesem Abends lieber fürs Zusperren entschied, für den Weg ins Regain, eines der fantastischen Gastropubs, wie sie in Frankreich gerade aus dem Boden wachsen wie die Schwammerl. Ich liebe die Fünf-Gänge-für-vernünftiges-Geld-Strategie dieser neuen Generation von Gastgeberinnen und Gastgebern und kam etwas zu früh in die Rue Saint-Pierre, wo das Regain einen wundervollen Hinterhof und eine schlichte Gaststube bespielt.

Ich hatte mir nämlich für den Abend eine großartige Strategie zurechtgelegt: früh essen, dann ins Hotel, bevor der Wirbel überhaupt losgeht. Allerdings sperrte das Regain wegen meiner Strategie keine Minute vor sechs auf. Ich hatte also genug Zeit, die Kundeninformation des Lokals zu studieren, die neben dem Eingang hing: „Jede Woche bekommen wir neue Lebensmittel, und jedes Mal sind diese Dinge supergut. Also machen wir daraus etwas Köstliches. Wenn Sie scharfe, salzige oder auch süße Gerichte mögen, sind Sie hier richtig.“

Ceviche, Lammkeule, lackierte Aubergine

Das traf sich gut, denn ich mag scharfe, salzige und süße Gerichte. Vier Gänge, 55 Euro, auch das eine Ansage. Ich bekam, weil ich der Erste war, einen schattigen Platz im Garten, und dann ging es Schlag auf Schlag. Zur Vorspeise bestellte ich ein in saftige Scheiben geschnittenes Schweinskarree mit Brokkoli und Portulak, es ging also deftig los. Wobei: Die Walnusscreme, auf der das Fleisch lag, und die reife, in Stücke geschnittene Marille verwandelten die Komposition eleganzmäßig in etwas Höheres. 

Der zweite Gang war ein atlantischer Bonito, roh, den die Küche mit Gurke, Basilikum und in Limettensaft und Paprika gesäuerten Sauerteigbrotbröckchen servierte. Ich mochte das Spiel der Schärfen und Fruchtigkeiten, das den „Pélamide Crue“ über eine simple Ceviche hinauswachsen ließ. Während ich aß, füllte sich das Restaurant sukzessive, zuerst der Garten, dann auch innen jeder einzelne Tisch. Das Regain ist ein guter Tipp, keine Frage. Ob an diesem Abend viele Menschen aus dem Stadtzentrum hierher auswichen, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass ich es nicht erstaunlich fand, dass die Hütte voll ist. Denn auch die Hauptspeise war überzeugend: eine Lammkeule mit Zucchini, Austernpilzen, Salbei und Kirschhälften, die mit Senfkörnern eingelegt worden waren. Spätestens jetzt hatte ich begriffen, dass im Regain gern mit Fleisch, Fisch und Obst gekocht wird, also tatsächlich: scharf, salzig, süß. 

Ich hatte noch keine Lust zu gehen, deshalb ließ ich mir noch ein Glas Wein kommen und bestellte anstelle eines Desserts die lackierte Auber­gine mit kandiertem Eigelb, die so fancy war, wie sie klingt, außerdem mit Oregano-Joghurt und knackiger Stangensellerie. Man könnte fast meinen, Ottolenghi sei hier zu Besuch gewesen, bevor er zum Weltstar wurde. Die Typen vom Regain waren beeindruckt von meiner Bestellung, und trotzdem war es noch vor acht, als ich mich auf den Heimweg Richtung Hotel machte. Aus Sicherheitsgründen, wie bereits skizziert.

Unerwarteter Abstecher

Weil ich schlau bin, dachte ich mir, ich steuere das Beauvau nicht auf direktem Weg durchs Zentrum an. Lieber schlage ich einen großen Haken. Als ich in Richtung des Stadtteils Castellane schlenderte, unterschied sich Marseille in nichts von jeder anderen mediterranen Stadt. Die Farben der Hausfassaden strahlten im roten Abendlicht besonders kräftig. Vor den Eckkneipen hatten ein paar ältere Typen die Tische auf die Straße gestellt und tranken Bier oder Tee. Pärchen spazierten Hand in Hand in den Abend, und ich war schon fast versucht, mich selbst hochmütig auszulachen und alles, was ich bisher gesehen hatte, für halb so wild zu halten, als mir eine Gruppe von Menschen mit großen Schritten und besorgten Gesichtern entgegenkam.

„Komm lieber mit“, rief mir eine Frau zu, die, wie sich später herausstellte, von einer Ausstellungseröffnung kam, „da unten ist die Hölle los.“ Als sie das sagte, nahm ich auch schon das Echo des Tränengaseinsatzes wahr, der um die Ecke passiert sein musste, während ich mir meine Aubergine zu Gemüte geführt hatte. Ich folgte also der Gruppe, die sich jetzt verabschiedete und zerstreute. Zwei Frauen blieben übrig, die mich aufforderten, mit ihnen zu kommen: „Es ist besser, wenn du jetzt nicht auf der Straße bleibst.“ Wir gingen auf verschlungenen Wegen irgendwohin, ich verlor völlig die Orientierung. Einmal kam uns ein gepanzertes Fahrzeug der Polizei entgegen, was ich auch nicht unbedingt angenehm fand, dann betraten wir ein altes, mondänes Haus, das, wie sich herausstellte, in der Nähe von Notre Dame de la Garde lag, der Kirche, die hoch über dem Alten Hafen die Vorherrschaft der katholischen Kirche markiert.

Dort wohnte Swan, eine Amerikanerin, die auf verschlungenen Wegen nach Marseille gekommen – und geblieben war, in einer wundervollen kleinen Wohnung. Sie war nicht auf Besuche eingerichtet und hatte nichts zu trinken, nur warmen Prosecco. Nun ist warmer Prosecco genau das richtige Getränk, wenn man in Marseille in Sicherheit ist und auf eine Stadt voller Blaulicht und Rauch hinunterschaut, denn Swans Wohnung hatte gleich zwei Balkone. Einer schaute zum Hafen hinunter, der ­andere zur Kathedrale hinauf. Dort verbrachten wir diesen Abend.

Die zweite Frau, Sylvie, war Sängerin. Die atemberaubende Schönheit ihres Mittelmeer-Albums Topographia, das sie ein Jahr davor mit ihrer Gruppe Zoppa aufgenommen hatte, lernte ich erst später kennen, als ich wieder an Musik denken konnte. Aber an diesem Abend redeten wir über alles andere, was uns durch den Kopf ging, zufällig zusammengewürfelt und für einen Abend an einen ­gemeinsamen Ort bestellt. Der Mond stand hoch, wir redeten über Gott und die Welt. In der Zwischenzeit hatte die zweite Flasche Prosecco Zeit gehabt, kalt zu werden, und irgendwann wirkte Marseille dort unten müde und schläfrig und schön, und das war der Zeitpunkt, als ich mich auf den Rückweg zum Hotel wagte. 

Nächste Station: das Limmat

Der Lärm war vorbei. Die Spuren der Auseinandersetzungen waren überall zu sehen. Verkohlte Müllcontainer, eingeschlagene Scheiben, ein ausgebrannter VW-Bus. Vom Hafen strömten mir Menschen entgegen, die so wie ich die Gelegenheit nutzten, schnell nach Hause zu kommen. Sie wirkten wie eine Menge, die gerade von einem Konzert kommt, wahrscheinlich ernste Musik.

Am nächsten Morgen ist die Verwandlung Marseilles in eine ­unschuldige Schöne ein weiteres Mal perfekt. Die Stadt wacht im zartesten Morgenlicht auf. Die Schlagzeile von La Provence lautet „Le Chaos“. Und ich kümmere mich um genau zwei Dinge: ein Gaffa-Band, mit dem ich mein kaputtes Autofenster zukleben kann, um die Flucht aus Marseille antreten zu können; und um ­einen Tisch im Limmat, zum Mittagessen. Das Limmat wird, wie der Name vermuten lässt, von einer Exilzürcherin geführt. Lilian Gadola hat in der Alpenrose bei Tine Giaccobo ihr Handwerk gelernt, eine viel bessere Referenz gibt es nicht. 

Das Lokal liegt direkt an den Escaliers du Cours Julien, an den Stiegen, die vom Cours Lieutaud hinauf zum Cours Julien führen, zwischen Graffitis, Palmen und bunten Geländern. 

Es gibt heute Carpaccio von der Meerbarbe mit einer köstlichen grünen Sauce. Nachher nehme ich einen Ricottakuchen mit Mangoldragout und gedämpftem Brokkoli und genieße den farbenfrohen Platz und die Luft von Marseille in vollen Zügen. Auf meiner Liste, die ich immer dabei habe, kontrolliere ich die Orte, die ich noch besuchen wollte: die Femme du Boucher, ein Gastropub in einer ehemaligen Fleischerei; das Tripletta, das nur Pizza serviert; das libanesische Restaurant Mouné; die Poissonerie du Golfe, nur mittags geöffnet, aber für ihre Bouillabaisse über Marseille hinaus bekannt; die Brasserie Chez Michel und das Restaurant Chez Fonfon, beide in Sachen Fisch in der ersten Reihe. 

Und natürlich Alexandre Mazzia, den einzigen Dreisterner in der Stadt. Aber nicht heute und nicht morgen. Denn für diesmal verabschiede ich mich von Marseille, und zwar mit den Worten von Joseph Roth aus dessen fantastischem Reisebuch Rot und Weiß:

„Hier löst sich alles scheinbar Bleibende auf. Hier schließt es sich zusammen. Hier ist fortwährender Aufbau und Zerstörung. Keine Zeit, keine Macht, kein Glaube, kein Begriff ist hier ewig. Was nenn’ ich Fremde? Die Fremde ist nah.
Was nenn’ ich Nähe? Die Welle trägt es fort.
Was ist das Jetzt? Schon ist es vergangen. Was ist das Tote? Schon schwimmt es wieder heran.
Während ich dies schreibe, sieht Marseille schon anders aus. Und was ich in tausend Worten berichte, ist ein kleiner Tropfen aus dem Meer des Geschehens, mit dem freien Aug’ nicht zu sehn, zitternd auf der dünnen Spitze meiner Feder.“

Artikel aus A la Carte 06/2024.

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