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Berufsunfähigkeit: Krank heißt oft auch arm

Ob Depressionen, Krebs oder ein schwerer Bandscheibenvorfall: Jeder fünfte Österreicher wird im Laufe seines Lebens berufsunfähig, kann seinen Job also für mehr als sechs Monate nicht mehr ausüben. Viele der Betroffenen geraten dadurch in eine finanzielle Notlage. schauvorbei.at hat mit Jürgen E. Holzinger vom Verein ChronischKrank über die mangelnde Unterstützung des Staates und die Möglichkeiten für berufsunfähige Menschen gesprochen.
Von Burn-out bis hin zu Depressionen: Rund 60 % der berufsunfähigen Menschen in Österreich leiden unter psychischen Erkrankungen. © Getty Images

Was passiert, wenn der Körper oder die Seele nicht mehr mitspielen? Wenn medizinische Gutachten im Eiltempo erstellt und Rehabilitationen verweigert werden? Jürgen E. Holzinger hat als junger Nierenpatient selbst erlebt, wie das System in vielen Fällen mit chronisch Kranken umgeht – und daraus Konsequenzen gezogen. Vor 15 Jahren hat er den Verein ChronischKrank gegründet, der Betroffene in ganz Österreich berät, juristisch unterstützt und Missstände sichtbar macht. Im Gespräch mit schauvorbei.at spricht der Oberösterreicher über massive Ablehnungsquoten und fehlgeleitete Rehabilitationsmaßnahmen.

schauvorbei.at: Die wenigsten Menschen, die voll im Arbeitsleben stehen, denken an eine mögliche Berufsunfähigkeit. Ein unterschätztes Risiko?
Jürgen E. Holzinger: Ja, ein massiv unterschätztes Risiko. Jeder fünfte Erwerbstätige ist im Laufe seines Lebens einmal berufsunfähig. Viele verlassen sich auf den Staat und glauben, dass sie ausreichend unterstützt werden, wenn sie eine Berufsunfähigkeit trifft. Tatsächlich ist es aber so, dass 74 % der Anträge wegen Berufsunfähigkeit in Österreich abgelehnt werden.

schauvorbei.at: Warum werden drei viertel der Anträge abgelehnt?
Jürgen E. Holzinger:
Ein großes Problem ist die medizinische Begutachtung der Betroffenen, für die sich die Gutachter in der Regel nur zehn oder 15 Minuten Zeit nehmen. Menschen, die nicht mehr arbeiten gehen können, kommen mit einer Mappe voller Befunde zum Gutachter und müssen dann feststellen, dass ihre Befunde gar nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das Ergebnis ist ein Gutachten, das überhaupt nicht passt. Dagegen kann man zwar gerichtlich vorgehen, aber nur wenige Betroffene machen das auch – zum Beispiel, weil keine Rechtsschutzversicherung besteht und die Angst vor hohen Kosten groß ist. Denn wenn man gegen den Staat vorgeht, muss man seine Rechtsanwaltskosten immer selbst tragen, auch wenn man gewinnt. Bei Verwaltungsverfahren ist das so. Ganz anders als bei Zivilverfahren, bei denen die Kosten von der Gegenseite übernommen werden, wenn man gewinnt.

© Lauringer M.

„Das System hat viele Schwächen, doch die meisten Österreicher wissen davon nichts. Deshalb setzen wir im Verein auf Aufklärungsarbeit, auch gemeinsam mit Versicherungen.“
Jürgen E. Holzinger, Gründer des Vereins ChronischKrank

 

 

schauvorbei.at: Was sagen Sie diesen Menschen?
Jürgen E. Holzinger: Wir motivieren sie massiv zu einer Klage und unterstützen sie dabei. Über 50 Kanzleien, die auf das Thema spezialisiert sind, stehen uns österreichweit zur Seite und erledigen alles Rechtliche für die Betroffenen. Die Kosten dafür belaufen sich auf rund 400 bis 500 Euro, die Erfolgsquote liegt bei 50 %.

Im vergangen Jahr haben wir mehr als 1.100 Klagen gegen die PVA und die SVA durchgeführt. Das ist wenig, wenn man bedenkt, dass 55.000 Anträge auf Berufsunfähigkeit gestellt und etwa 74 % davon abgelehnt wurden. Das heißt, nur ein Bruchteil der Betroffenen klagt und Tausende sind in den Notstand gerutscht.

Wir sind deshalb seit Jahren in Gesprächen mit der Politik und hoffen, dass es zu einer Reform kommt – zumindest wurde das Thema Berufsunfähigkeit zuletzt ins Regierungsprogramm aufgenommen. Eine Reform müsste bei den Gutachtern beginnen, denn diese sind derzeit von der PVA beauftragt und nicht unabhängig. Sie müssen eine gewisse Ablehnungsquote erfüllen – das hören wir immer wieder von Gutachtern, die nicht direkt bei der PVA sitzen, sondern in ihrer Praxis Begutachtungen durchführen. Und das ist pervers.

Weiters müsste die Qualität der Begutachtung steigen. Derzeit sind die Gutachter großteils Allgemeinmediziner, obwohl 60 % der Betroffenen psychisch krank sind. Man bräuchte also mehr Fachärzte – allen voran Psychologen und Psychiater – für die Beurteilung.

schauvorbei.at: War der Anteil an psychischen Erkrankungen schon immer so hoch oder ist das eine Entwicklung der vergangenen Jahre?
Jürgen E. Holzinger: Vor zwanzig Jahren waren rund 65 % der Betroffenen aufgrund von Erkrankungen des Bewegungsapparats berufsunfähig. Das hat sich umgekehrt, jetzt sind Erkrankungen der Psyche häufiger. Das ist nicht nur in Österreich so, sondern auch in anderen Leistungsgesellschaften, etwa in Deutschland oder Amerika. Tendenz steigend. Und das große Problem ist, dass es derzeit keine Therapie oder Rehabilitation gibt, die die Leute wieder in einer angemessenen Frist ins Berufsleben zurückbringt.

Die Masse der Betroffenen bleibt sieben oder acht Jahre lang im Reha-System hängen. Sie müssen sich vorstellen, was das für die jeweilige Einkommenssituation bedeutet. Diese Menschen müssen mit circa der Hälfte ihres ursprünglichen Einkommens leben.

schauvobei.at: Sie haben gerade die Rehabilitation angesprochen, die zu den staatlichen Unterstützungsleistungen bei Berufsunfähigkeit zählt. Wie sieht diese genau aus?
Jürgen E. Holzinger: Seit der Reform 2014 gibt es in Österreich zwei Möglichkeiten der Rehabilitation bei Berufsunfähigkeit, über die der jeweilige Gutachter entscheidet. Die eine ist die medizinische Rehabilitation, die andere die berufliche Rehabilitation. Die berufliche Rehabilitation, bei der zum Beispiel eine Umschulung bezahlt wird, erhalten nur Menschen mit einem Berufsschutz. Das heißt, dass alle Selbstständigen bis fünfzig sowie Hilfsarbeiter ausscheiden. Das ist sehr ungerecht, gerade Hilfsarbeiter ohne Ausbildung könnten von einer Umschulung profitieren. Für diese Betroffenen bleibt aber nur die medizinische Rehabilitation.

Die medizinische Rehabilitation läuft über die Krankenkasse und hat in den vergangenen Jahren leider gezeigt, dass sie wenig erfolgreich ist. 2023 haben rund 130.000 Menschen daran teilgenommen und nur knapp 300 davon konnten danach ins Berufsleben zurückkehren. Das ist ein Witz – die Maßnahmen sind sehr kostspielig, greifen aber nicht.

Ein Riesenproblem ist diesbezüglich auch die sogenannte Mitwirkungspflicht. Betroffene müssen jedes Medikament einnehmen, das ihnen im Zuge der medizinischen Rehabilitation verschrieben wird. Das geht sogar so weit, dass das Blut dahingehend kontrolliert wird. Jetzt ist es aber so, dass viele Betroffene einen niedergelassenen Facharzt, zum Beispiel einen Psychiater, haben, der sagt: „Das Medikament, das Ihnen der Allgemeinmediziner im Zuge der Reha verschrieben hat, ist überhaupt nicht das richtige für Sie.“ Trotzdem muss der Betroffene weiterhin die falschen Medikamente schlucken, weil der Allgemeinmediziner von der Kasse in der Hierarchie höher steht. Viele sind dann ganz verzweifelt.

Das betrifft nicht nur Medikamente, sondern auch Therapien. Wir haben zum Beispiel den Fall einer Person, die so sehr unter Angstzuständen und Depressionen leidet, dass sie nicht einmal vor die Tür gehen kann. Der Allgemeinmediziner der ÖGK verlangt aber von ihr, dass sie eine sechswöchige Reha in Bad Gleichenberg macht. Das Einzige, was man da tun kann, ist klagen.

schauvorbei.at: Gehen wir einen Schritt zurück, zum Antrag auf Berufsunfähigkeit. Wann sollte dieser gestellt werden?
Jürgen E. Holzinger:
In Österreich kann man maximal ein Jahr im Krankenstand sein. Spätestens nach diesem Jahr wird man automatisch ausgesteuert. Das heißt, man hat dann plötzlich keine Sozialversicherung und kein Einkommen mehr, muss Medikamente oder Krankenhausaufenthalte selbst zahlen. Viele Menschen schlittern unwissend in diese Situation, weil sie niemand darauf aufmerksam gemacht hat.

Was machen die meisten dann? Sie gehen zum AMS. Um Arbeitslosengeld zu beziehen, müssen sie allerdings unterschreiben, dass sie arbeitswillig und arbeitsfähig sind. Und dann sitzen sie in Kursen oder müssen sich bewerben, obwohl sie krank sind.  

Man muss also rechtzeitig einen Antrag auf Berufsunfähigkeit stellen und miteinberechnen, dass die Ablehnungsquote sehr hoch ist.

schauvorbei.at: Trifft Berufsunfähigkeit hauptsächlich Ältere oder auch viele junge Menschen?
Jürgen E. Holzinger:
Ein Drittel der Menschen mit Berufsunfähigkeit ist unter 50 Jahre alt, meist zwischen 18 und 45. Es ist bitter, wenn Leute, die sich gerade in der Aufbauphase ihrer Karriere befinden, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten gehen können. Eine WIFO-Studie von 2019 hat gezeigt, dass ein 25-jähriger Mann durch Berufsunfähigkeit bis zu 53 % seines Lebensnettoeinkommens verliert.

Schlimm ist es insbesondere auch für Frauen, bei denen Kinderbetreuungszeiten und Teilzeitarbeit eine große Rolle spielen. Sie werden bei Berufsunfähigkeit oft mit nur 550 Euro im Monat abgespeist. Zwar hätten sie Anrecht auf eine Ausgleichszulage mit Anhebung auf insgesamt 1.100 Euro im Monat, dieses Anrecht gibt es jedoch nicht, wenn jemand im selben Haushalt Geld verdient. Für die Betroffenen bedeutet das eine massive finanzielle Einschränkung.

Wir hatten zum Beispiel kürzlich den Fall einer alleinerziehenden Mutter, die berufsunfähig ist. Sie hat 550 Euro erhalten sowie die Ausgleichszulage, durch die das Monatseinkommen auf 1.100 Euro angehoben wurde. Als ihre Tochter eine Lehre begonnen und 850 Euro im Monat verdient hat, ist die Ausgleichszulage der Mutter wieder weggefallen.

schauvorbei.at: Das heißt, in vielen Fällen kommt zur Erkrankung auch noch eine soziale Schmach – man muss um seine Existenzgrundlage betteln.
Jürgen E. Holzinger:
Das sehen wir oft bei Leuten, die eine körperliche Erkrankung haben und dann zusätzlich psychische Probleme entwickeln, weil sie aus der Situation einfach nicht herauskommen. Man ist krank, hat finanziellen Druck und bekommt keine Therapie, wird abgelehnt.

Das System hat viele Schwächen, doch die meisten Österreicher wissen davon nichts. Deshalb setzen wir im Verein auf Aufklärungsarbeit, auch gemeinsam mit Versicherungen.

schauvorbei.at: Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach eine Berufsunfähigkeits-Versicherung?
Jürgen E. Holzinger: Solange das System in Österreich nicht reformiert wurde, sollte man sich privat absichern, um im Fall einer Berufsunfähigkeit nicht im Sozialsystem beziehungsweise in Armut zu landen. Die Deutschen sind da weiter, jeder dritte Erwerbstätige hat dort eine BU-Versicherung. In Österreich sind es nur vier Prozent. Wir empfehlen, schon in jungen Jahren, wenn man ins Berufsleben einsteigt, eine BU-Versicherung abzuschließen. Da ist die Prämie noch niedrig.

schauvorbei.at: Wie sieht die Arbeit in Ihrem gemeinnützigen Verein ChronischKrank aus?
Jürgen E. Holzinger:
Wir haben vier Schwerpunkte: die Berufsunfähigkeit, das Pflegegeld, den Behindertenpass und die Therapie- und Medikamente-Ablehnung. Insgesamt haben wir im Vorjahr mehr als 2.000 Klagen zu diesen Themen durchgeführt. Pro Tag erhalten wir um die 200 Anfragen und bieten kostenlose Erstberatungen, persönlich, telefonisch oder per Zoom.

Wenn wir dann mit unseren Juristen tätig werden sollen, muss man Vereinsmitglied werden. Im Jahr kostet das 79,90 Euro, dazu kommen rund 500 Euro Selbstbehalt pro Fall. Das ist mit den üblichen Kosten für einen Rechtsanwalt natürlich nicht vergleichbar, aber für Menschen, die am Existenzminimum leben, trotzdem viel Geld. Deshalb helfen wir in manchen Fällen gratis.

Unsere Rechtsanwälte machen das, weil sie von der Sache überzeugt sind. Und im Fall, dass sie gewinnen, bekommen sie einen gewissen Teil vom Gericht ersetzt.

schauvorbei.at: Warum haben Sie sich dazu entschlossen, den Verein zu gründen?
Jürgen E. Holzinger:
Als ich 22 Jahre alt war, haben meine Nieren versagt. Inzwischen habe ich bereits drei Nierentransplantationen und unzählige Dialyse-Behandlungen hinter mir. Ich habe gesehen, wie viele andere Patienten in meinem Umfeld an ihrer finanziellen Situation zerbrochen sind, weil sie ihre Fixkosten kaum abdecken konnten. Und da habe ich mir gedacht: Es muss doch eine zentrale Anlaufstelle geben, die weiterhilft. Und so habe ich vor 15 Jahren den Verein gegründet.

Zuerst war der Verein nur in Linz tätig, aber im Zuge der Beratungen haben wir viele Missstände aufgedeckt und gesehen, wie viele Menschen Hilfe benötigen. Als dann die Medien auf uns aufmerksam geworden sind, sind die Anfragen explodiert. Heute haben wir 15.000 Mitglieder und verzeichnen immer noch jedes Jahr 30 % Wachstum.

schauvorbei.at: Vielen Dank für das Gespräch!

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