Wer würde mir widersprechen, wenn ich London eine Stadt nennen würde? Keine Ahnung, aber wenn es keiner von Ihnen macht, widerspreche ich eben persönlich, weil London nämlich ganz sicher keine Stadt ist, jedenfalls keine homogene Stadt, sondern eine Zusammenballung von Städten, von Dörfern, von Zwischenräumen zwischen merkwürdigen Zentren, von denen man noch nie etwas gehört hat, wenn man nur mit dem Hop-on-Hop-off-Bus rund um Piccadilly gefahren ist und vielleicht ein Fußballspiel in Wembley besucht hat.
Als ich also zuletzt für ein paar Tage nach London reiste, um dort nicht näher zu definierenden Pflichten nachzukommen, wurde mir die Idee, in meinem Lieblingshotel abzusteigen, freundlich ausgeredet. Mein Lieblingshotel, danke, dass Sie nachfragen, ist das Portobello in Notting Hill, eine ehemalige Rockstar-Absteige in privilegierter Lage, wo ich seit vielen Jahren gut schlafe, nur manchmal muss ich mit den Zähnen knirschen, weil die Preise schneller steigen als mein Blutdruck. Ich suchte mir also ein unspektakuläres Airbnb in der Nähe von Queen’s Park. Weil ich schon die ersten Fragen höre, ob im Queen’s Park die legendären Queen’s Park Rangers zu Hause sind, hier die ernüchternde Antwort: Sie sind es nicht. Ist das logisch? Ich denke nicht. Stimmt es trotzdem? Leider ja.
Sensationelles Ragù Genovese
Queen’s Park befindet sich westlich von Kilburn. Bevor Sie jetzt auf der Karte nachschauen, Kilburn ist der Stadtteil nördlich von Notting Hill, allerdings so weit nördlich, dass der Fußweg vom Portobello Hotel zum Queen’s Park eine sehr gute Stunde beträgt, wenn man gut zu Fuß ist.
Ich war also ein bisschen verstört, weil ich mir vorstellte, dass jede einzelne Anreise zu einem satisfaktionsfähigen Wirtshaus einer Reise von Wien nach Salzburg gleichkommen würde. Aber da saß ich, und zwar sehr gerne, einem Irrtum auf. Queen’s Park und Kilburn beherbergen nämlich ganz außerordentliche Tränken und Ausspeisungen, die den Vorteil haben, dass sie nicht bis ans Ende unserer Zeit ausreserviert sind, wie etwa das St John, das Lyles oder das Brat. Umgekehrt heißt das natürlich nicht, dass Walk-ins willkommen wären, aber mit ein bisschen Geduld und terminlicher Jonglierfähigkeit war es zum Beispiel möglich, einen schönen Tisch bei dem Italiener zu bekommen, den der Condé Nast Traveller für den besten Londons hält. Dabei handelt es sich um ein Quartierlokal namens Ida an der Kilburn Lane. Außen ist das Haus von einer graugrün gestrichenen Holzverschalung eingefasst, innen freut man sich, wenn am Vierertisch nebenan nicht zufällig sechs Personen sitzen. Zwei von denen säßen nämlich sonst bei mir auf dem Schoß.
Ich hatte schon einmal die Ehre, in London bei Giorgio Locatelli zu essen, der nun auch kein minderbegabter Koch ist. Aber der Unterschied zwischen der lauten, glitzernden, perfekt ausgeleuchteten Edel-Italo-Bleibe von Giorgio und der dunklen Höhle von Ida könnte nicht größer sein. Wenn man essen geht, um nachher eine gute Story erzählen zu können, ist das Locatelli eine gute, wahrscheinlich die perfekte Wahl. Möglicherweise sieht man dort David Beckham oder Boris Johnson, während die prominenteste Person bei Ida die Inhaberin Simonetta ist, die darüber wacht, dass die Pasta weich und geschmeidig und das Ragù von so tiefem Geschmack wie der Marianengraben ist. Später, ein paar Wochen nach meinem ersten Besuch, fand ich im Magazin der Financial Times das Rezept für exakt dieses Ragù, und es – das Rezept – hat seit damals meine Küche nicht mehr verlassen. Schon in Kilburn selbst war ich von der Beschaffenheit der Sauce, die perfekt mit der Beschaffenheit der Pasta harmonierte, begeistert, vielleicht sogar hingerissen. Wäre mein alter, leider im Vorjahr verstorbener Freund Michael Horowitz mit von der Partie gewesen, hätte er keine Sekunde gezögert, eine zweite Portion dieser Pasta und dieser Sauce zu bestellen. Ich beschied mich mit dem nervösen Nachschenken von Rotwein und einer zeitlupenmäßigen Geschwindigkeit beim Leeren meines Tellers.
Sie kennen ja alle den Moment, wenn ein Buch, das Sie wirklich lieben, dem Ende zugeht. Man versucht dann, sich an jedem Wort, an jedem Satzzeichen anzuhalten, um bloß nicht zum traurigen Hinweis – ENDE – zu kommen. So behandelte ich meinen Teller, und natürlich stand irgendwann Simonetta neben meinem Tisch und fragte mich, ob es mir nicht schmecke. Nachdem ich ihr mein Dilemma erklärt hatte,
waren wir augenblicklich Freunde fürs Leben. Außerdem brachte sie mir einen Nachschlag, keine zweite Portion, nein, so weit wollte keiner von uns gehen, aber einen kleinen Nachschlag, der mich dazu motivierte, noch ein bisschen Rotwein nachzubestellen.
Wolfpack und Pizza vom Nachbarn
Um in einer Stadt (oder Teilstadt, das Wort „Stadtteil“ trifft meines Erachtens nicht zu) an die richtigen Adressen zu kommen, braucht man Glück oder Verbindungen. Ich hatte beides und wurde von Ortskundigen an die richtigen Orte geschickt. Zum Beispiel haben sich in der Lonsdale Road, die von der Salusbury Road, die wiederum so etwas wie die Queen’s Park High Road ist, abzweigt, gleich mehrere außerordentliche Spaßorte angesiedelt. Mein liebster war das Pub mit dem interessanten Namen Wolfpack Queen’s Park, das auf eine organische Weise in eine ehemalige Garage hineingebaut worden war. Die Rollläden zum Beispiel gibt es noch, das Pub hat offen, sobald sie sich heben, und es schließt, sobald sie hinunterrasseln. Das Bier, es heißt Wolfpack, stammt aus einer Stadtteilbrauerei, die von zwei ehemaligen Mitgliedern der Saracens Rugby Union gegründet wurde und genaue Kenntnis davon hat, wie man Lager macht.
Über die warmen, obergärigen Biere, die in Englands lustigen Formaten (1 Pint = 0,5683 Liter) serviert werden, kann ich nichts berichten, weil ich sie nicht sonderlich schätze. Das soll nicht heißen, dass ihnen nicht fleißig zugesprochen wurde, am hingebungsvollsten von den Menschen, die halb drinnen und halb draußen standen, also von der späten Nachmittagssonne des frühen Sommers noch gewärmt wurden, ihre Zigaretten rauchen durften und trotzdem ihren Arsch nicht bewegen mussten, wenn, wie in London jederzeit möglich, ein kleiner Schauer niederging.
Das Bier war gut. Die Musik war gut. Die Stimmung war gut. Auch ich bewegte mich in den lichtdurchfluteten Transitraum zwischen Nachmittag und frühem Abend, wissend, dass ich in einem nahen Mittelmeerrestaurant einen Tisch bestellt hatte. Fast hätte ich diesen storniert, als ich mitbekam, dass die fortgeschrittenen Besucherinnen und Besucher (es waren mehr Besucher) des Wolfpack bei ihren Kellnern Pizza bestellten. Zwar verfügt das Wolfpack weder über einen Pizzaofen noch eine ernst zu nehmende Küche, in der man etwas Avanciertes unternehmen kann, wie etwa Sackerln mit Kartoffelchips aufzureißen, aber dafür verfügten sich die Kellner zur Pizzeria nebenan (Pizza Pilgrims Queen’s Park), kauften dort frische Pizza ein und brachten sie gegen geringen Aufschlag zu den Herrschaften, die wie ich ihren Arsch nicht bewegen wollten. Unbedingt beim nächsten Mal Pizza bestellen, schrieb ich in mein schlaues Buch, ein bisschen unleserlich, muss ich gestehen, weil ich wahrscheinlich schon drei Bier getrunken hatte oder vier.
Artischockenblüte bis Lammkeulen-Shawarma
An besagtem Abend riss ich mich jedoch zusammen und besuchte gegen nicht unerheblichen inneren Widerstand den Ort, wo man auf mich wartete. Das Restaurant heißt Carmel, es ist eine jener Hütten, die so ausgebucht sind, dass der Platz, den man zugewiesen bekommt, noch warm ist vom Hintern des Vormieters. Aber so funktioniert der angewandte Kapitalismus: Die Mieten in London sind selbst in Lokalen, die anderthalb Stunden vom Picadilly entfernt sind, so hoch, dass jeder Platz und jeder Tisch so oft wie möglich verkauft werden muss, tagein, tagaus, von früh bis spät. Das Interessante an diesem Phänomen aber ist, dass die kulinarische Leistung der Teams in der Küche davon völlig unbeeinflusst ist. Die Kellner, die wahrscheinlich schon acht oder neun Stunden auf dem Tacho haben, sind so freundlich, als wärst du David Beckham persönlich, und das, was sie aus der Küche bringen, würde anderswo zweifelsfrei für Furore sorgen.
Trotz meiner vorgezogenen Grundsättigung durch die genossenen Wolfpacks konnte ich mich nicht auf meinen zwischenzeitlich ausgeheckten Plan beschränken, nur eine Vor- und eine Hauptspeise zu essen. Stattdessen fragte ich den aufgeweckten Kellner nach seinen speziellen Empfehlungen, nur um seinen Tipps noch ein paar Kommentare meinerseits hinzuzufügen. Das mündete in folgende Speisenfolge: Ich nahm (der Empfehlung des Kellners gemäß) die knusprige Artischockenblüte mit Zitronen-Mayo und orientalischen Gewürzen, schob einen Isle-of-Wight-Tomatensalat nach (wann kriegt man schon einmal Isle-of-Wight-Tomaten, vor allem mit Oliven, libanesischer Gurke und Mandeln?), wählte die Nduja-Garnelen a la plancha (die scharfe, kalabrische Streichsalami Nduja ist ja gerade the Hottest Shit in ganz Europa, also auch hier) mit, aufgepasst, karamellisierter Zitrone und rundete die Mahlzeit mit einem Lammkeulen-Shawarma ab. Auf Desserts verzichtete ich, man muss ja auf die Linie achten.
Das Essen im Carmel war ein bisschen ottolenghisiert, klar, aber köstlich: jedes Gericht leicht verständlich, aber auf seine eigene Art charaktervoll. Als ich die Mahlzeit beendet hatte und mit einem leichten Völlegefühl den Heimweg antrat, hatte das Wolfpack bereits die Läden hinuntergelassen. Schade, ich hätte sonst noch einen für die Verdauung an der Theke mitgenommen.
Kleine und große Überraschungen
Ich muss gestehen, dass ich der Idee, rund um Queen’s Park kulinarisches Mikromanagement zu betreiben, ein paar Sollbruchstellen eingebaut hatte. An einem Abend zum Beispiel verfügte ich mich vom Norden Londons in dessen Süden, weil ich bei einer Unterhaltung sachkundiger Menschen aufgeschnappt hatte, dass sie das Trinity in Clapham für den besten kulinarischen Tipp unter Brüdern und Schwestern hielten. Natürlich hätte mich die Tatsache alarmieren müssen, dass ich on „short notice“ noch einen Tisch bekam, aber weil mich das Jagdfieber gepackt hatte, sah ich darüber hinweg. Es ist bekanntlich immer die größte Freude, von Orten berichten zu können, wo man hinreißend gegessen hat und von denen zu Hause in Wien noch kein Mensch jemals gehört hat. Bei Heston Blumenthal oder Fergus Henderson ist der Entdeckungsgrad ja eher bescheiden, selbst wenn das Essen herausragend ist. Vom Trinity hingegen hatte mir noch nicht einmal der Weinhändler meines Vertrauens erzählt, der in London ungefähr 150 Herzcheneinträge für empfehlenswerte Wirte auf Google Maps hat.
Machen wir es kurz: Als ich nach zweieinhalb Stunden sehr bemühter, sehr teurer Fine-Dining-Küche wieder in die U-Bahn stieg, umgerechnet eine Reise von Linz nach Wien vor mir, bereute ich sehr, nicht ins Wolfpack gegangen zu sein, mir die Stirn ein bisschen in der Abendsonne gebräunt zu haben und den Garçon um eine Margherita beim Nachbarn geschickt zu haben. Nicht, dass das Essen im Trinity schlecht gewesen wäre: Thunfisch-Ceviche mit Apfel-Tagetes, Radieschen und Tomatenwasser, warmer halbgeräucherter Lachs mit Beurre blanc, Dulse-Algen und Gurke, Anjou-Taube, Dattel, Blutorange und grüne Olive und eine wirklich feine gesalzene Karamellcreme-Tarte. Aber man spürte die Mühe, die es alle Beteiligten gekostet hatte, und selbst in den allerbesten, raffiniertesten Restaurants der Welt ist eine gewisse Leichtigkeit in Konzeption und Umsetzung für mich die wichtigste Zutat.
Mein zweiter Joker-Tag, der mich mit der Bakerloo Line aus Queen’s Park wegführte, beamte mich in ein Lokal, vor dem ich ein bisschen Angst hatte. Es lag erstens gleich neben Piccadilly, warb zweitens auf einer ziemlich unruhigen Website für Spaß und Freude beim Essen und erfüllte damit drittens bereits einige der Kriterien, die für mich einen Besuch einer Lokalität eher ausschließen.
Nun geschah aber etwas Merkwürdiges. Nicht nur, dass im Fallow superlaute Musik gespielt wurde, was ein weiterer Ausschließungsgrund hätte sein können, ich fühlte mich augenblicklich wohl wie schon lange nicht. Sicher, die superlaute Musik war auch supergute Musik, eine Mischung aus zeitgemäßem Soul und jazzigen Ableitungen davon. Auch die Laune der Menschen, die mich in Empfang nahmen, war
exorbitant gehoben, und der Dialog, in den sie mich verwickelten, war nicht ranschmeißerisch, sondern heiter und verführerisch, sodass ich bereits bester Laune war, bevor ich den ersten Cocktail bestellen konnte.
Ja, natürlich ist das Fallow eines der Lokale, die man nicht verlässt, ohne mindestens drei Cocktails getrunken zu haben (1. Oyster Shell Martini mit Wodka, Noilly Prat und Jalapeño, 2. Mandarin Mimosa mit Mandarinensaft und Sprudel, 3. Rhubarb & Custard Spritz mit Gin, Rhabarber, Joghurt und Vanille – doch, das schmeckte ziemlich gut). Ich bestellte diese Cocktails übrigens, weil ich wollte, nicht, weil sie mir jemand aufgeschwatzt hätte, und genauso war es auch mit dem Essen. Zuerst Potted Shrimp & Crab crumpet, ein Töpfchen mit in Butter eingelegten Garnelen und Krabben mit einem frisch angerösteten Crumpet, dem typisch britischen Hefegebäck, dazu Apfelsalat. Dann ein Tandoori-Karfiol. Dann ein geräucherter Kabeljaukopf mit einer scharfen thailändischen Sriracha-Sauce und Lauchöl. Schließlich das köstliche Yorkshire Rhubarb Cheesecake Mousse mit Gingernut, eine Übersetzung des traditionellen Cheesecakes in eine leichtere Form, begleitet von den Bröseln von Ingwerkeksen. Ich quiekte vor Freude.
Zusammenfassung: Der Ort, zentral und glamourös. Der Service, schnell und kompetent. Die Küche, offen und angemessen gestresst, weil sich ungefähr 150 Gäste im Gastraum befanden, trotzdem heiter. Keine lauten Befehle, aber gegen Ende des Service vernehmliche gute Laune. Als ich aufstand und die Rechnung bezahlte, traf mich nicht, wie sonst manchmal, der Schlag. Sowohl Essen als auch Getränke haben ihren Preis, der aber ihren Wert nicht übersteigt.
Es ist vielleicht ein großes Wort, aber dieses Lokal machte mich an diesem Abend hoffnungslos glücklich. Um dieses Glück mit nach Hause nach Queen’s Park zu nehmen, leistete ich mir ausnahmsweise ein Taxi.
Weitere Entdeckungen in und um Queen’s Park
- Eine portugiesische Konditorei namens Lisboa, die wundervolle Pastel de Nata verkauft und Kaffee, der schwärzer ist als meine polierten Budapester.
- Die abgefuckte Filiale von Sam’s Chicken an der Kilburn Lane, wo als einziges Dekorationsstück eine Ukulele an der Wand hängt, auf der angeblich einmal Ed Sheeran gespielt hat, nachzusehen in einem YouTube-Clip, der übrigens sehr lustig ist.
- Das Café der Boutique-Bäckerkette Gail’s, wo es anständiges Frühstück mit Avocados gibt, sogar im Sitzen, wenn man im Hinterzimmer
einen Platz ergattert. Das ist nicht so einfach, weil offenbar viele Kreative, die hier in der Gegend zu Hause sind, aus ihren zu kleinen Wohnungen ausschwärmen, um in Cafés mit einer stabilen Internetverbindung ihrer Arbeit nachzugehen. Würde mich nicht wundern, wenn beim nächsten Besuch von Gail’s ein Foto des dicken Kerls mit dem Rossschwanz an der Wand hängt, der zwischenzeitlich die Riemannsche Vermutung falsifiziert und die Welt der Mathematik auf den Kopf gestellt hat. - Das Salusbury-Pub, wo es ein süffiges Hausbier gibt (die Fish & Chips kann man sich bei Mister Fish auf der anderen Straßenseite holen).
- Den Farmer’s Market auf dem Gelände der Salusbury Primary School, der jeden Sonntag stattfindet und mich mit Schnappatmung zurückließ: Einen solchen Überfluss an Fisch, Austern, Krustentieren, Lamm-, Rind- und Schweinefleisch, Milchprodukten, Gemüse und Blumen hatte ich bis dato nur in Frankreich gesehen.
- Und natürlich Ida. Bei Ida bist du nie gewesen, wenn du nicht zu ihr zurückgekehrt bist. Was du dort bestellen musst, ist ja hoffentlich klar.
Artikel aus A la Carte 02/2025.