In der Eidgenossenschaft ist Pünktlichkeit Trumpf, auch wenn sich die Züge ihren Weg durch die Bergmassive bahnen. Auf Schiene läuft alles verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk, und so komme ich wie geplant um exakt 15.24 Uhr in Scuol im Osten des Kantons Graubünden an. Lieblich schlängelt sich hier der in den Oberengadiner Alpen entspringende Inn durch. Hier wird vorrangig Rätoromanisch gesprochen und man begrüßt einander zwischen 11 und 17 Uhr mit „Allegra!“, also „Freue dich!“. Ein gutes Motto für mich.
„Bäderkönigin der Alpen“
Dass Scuol einst vom Bauerndorf zum Kurort avancierte, hat es seinen über zwanzig Mineralwasserquellen zu verdanken, die vor mehr als 650 Jahren schon urkundlich erwähnt wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr Hotels und Kurhäuser gebaut, Scuol erlangte den inoffiziellen Titel „Bäderkönigin der Alpen“. Aus aller Welt kamen Gäste, auch der russische Zar Nikolaus II. und die niederländische Königin Wilhelmina planschten im Mineralwasserbad und zwitscherten vermutlich direkt aus dem Dorfbrunnen das ein oder andere heilsame Gläschen.
Scuols unverwechselbarer Charme ist geprägt von seinen Engadinerhäusern mit ihren kunstvollen Sgraffiti, seinen schmalen Gassen und idyllischen Plätzen. Über dem Inn thront die 1516 eingeweihte Kirche. Als 13 Jahre später in der Region die Reformation einsetzte, warfen die Erneuerer Heiligenfiguren, Tabernakel und Altargemälde hochkant über den Felsen in den Inn. Die Legende besagt, dass ein paar Österreicher die Dinge ein bisschen weiter östlich auf der anderen Seite des Flusses wieder herausgefischt und umgehend verkauft haben.
Camping im Winter
Der nächste Ort flussabwärts ist das malerische Dorf Sur En, was so viel wie „über dem Inn“ heißt. Der Campingplatz „Sur En Camping“ hat das ganze Jahr über geöffnet und bietet Blockhäuser und Campingfässer. Nach einem rustikalen Abendessen falle ich in einer zwischen zwei Campingfässern liegenden, herrlich vorgeheizten Blockhütte einigermaßen tot um. Beim Wegschlummern höre ich noch jemanden, der den Schlüssel für sein Fass nicht gefunden hat, herrlich auf Schwyzerdütsch fluchen. Am Morgen erblicke ich den drei Kilometer langen Schlittschuhweg, der vor der Hütte durch den Wald mäandert. Klar hätte ich gern noch schnell einen doppelten Lutz in diesem Winterwunderland aufs Eis gezaubert, allein, mir fehlte die Zeit.
Tour durch die Natur
Denn im Bergdorf Ftan wartete bereits mein Guide Lukas. Sein Plan: dem Österreicher Schneeschuhe anziehen und im Val Tasna, einem Seitental des Unterengadins, ein paar Kalorien verbrennen zu lassen. Nach ungefähr einer Stunde, die uns über das glitzernde tiefe Weiß dieser pittoresken Berglandschaft gleiten hat lassen, bin ich mir sicher: Dieser Lukas ist ein Besessener – im positiven Sinn. Der studierte Biologe sieht nicht nur anhand von Bissspuren an Ästen, welches Tier hier die Knospen weggefuttert hat, sondern scheint auch alle Steinböcke, Gämsen und Bartgeier der Gegend, die uns sein Fernrohr näherbringt, persönlich zu kennen. Nach fünf intensiven Stunden im Schnee falle ich auch an diesem Abend abermals ausgepowert ins Bett. Diesmal im schön gelegenen Hotel „Guarda Val“, in dem modernes Design und Engadiner Stilelemente verschmelzen, man unterirdisch direkt ins Mineralbad „Bogn Engiadina“ wandeln kann und einem ein erstklassiges Fünf-Gänge-Dinner serviert wird.
Gesamtkunstwerk Schloss
Am nächsten Tag geht es nach Tarasp. Das Dorf gehörte einst zu Österreich, bis es Napoleon 1803 dem Kanton Graubünden zugeschlagen hat. Wegen der langen habsburgischen Herrschaft ist das Dorf heute eine katholische Enklave im ansonsten reformierten Unterengadin. Das Schloss, auf einem 100 Meter hohen Felsen thronend, ist das Wahrzeichen des Unterengadins. Seine Geschichte reicht zurück bis ins Jahr 1040, dann bauten die Habsburger das Schloss zur heutigen Größe aus. 1900 erwarb der Industrielle Karl August Lingner, der das bekannte Mundwasser „Odol“ vermarktete und groß machte, die damals schon verfallenen Mauern.
Der Dresdner ließ die Festung im Stil des Historismus umbauen und ging für das Inventar in der ganzen Welt shoppen. Rund 2.000 pro Jahr gerauchte Zigarren wurden Lingner aber zum Verhängnis. Bis zu seinem Tod im Jahr 1916 hatte er nur ein einziges Mal im – noch unfertigen – Schloss übernachtet.
Exakt 100 Jahre später erwarb der Schweizer Bildhauer und Maler Not Vital Tarasp das Schloss und machte es zu einem Hort der Kunst. Neben eigenen Exponaten bereicherte er die Wände etwa mit Werken von Rembrandt, Paul Klee und Andy Warhol. Hier gehen Gegenwartskunst und historisches Mobiliar eine famose Verbindung ein. Besichtigen kann man das Schloss übrigens nur im Rahmen einer Führung. Dabei erfährt man zum Beispiel, dass der kunstbeflissene Bildhauer die Kulisse seines Schlosses auch für seine Trauung nutzte, und zwar für eine ganz spezielle: Weiß gekleidet und mit einem hohen Turban, ehelichte der Schlossherr vor fünf Jahren sein heiß geliebtes Pferd.
Nach solchen Eindrücken brauche ich Ruhe – ideal ist jetzt ein Rundweg, der mir durchgehend die Aussicht auf den 3.173 Meter hohen Piz Pisoc beschert und mich zum oberhalb von Tarasp liegenden Bergsee Lai Nair bringt.
Kutschenfahrt ins Glück
Am späten Nachmittag wartet dann in Sasstaglià Kutscher Domenic mit einem Pferdeschlitten und Wolldecken auf mich. Die Fahrt durch völlig unberührte Natur am Rande des Schweizer Nationalparks in das abgelegene und malerische Dorf S-charl ist ein gemütliches Abenteuer. Gut eingepackt sehen Domenic und ich zwischen den schneebedeckten Gipfeln nicht nur jede Menge Gämsen, sondern in der Dämmerung auch einen Hirsch, der oberhalb der im Winter für den motorisierten Verkehr gesperrten Straße plötzlich auftaucht und uns beobachtet. Leise gleiten wir auf Kufen durch den frischen Schnee Richtung Ende des Tals, wo die Freiberger Pferde vor dem Gasthaus „Mayor“ Halt machen. Nach einem grandiosen Abendessen ist hier Nachtruhe angesagt. Die wahre Schönheit des Dorfs präsentiert sich mir erst am nächsten Morgen, an dem die Sonne vom Himmel lacht und mein Winter Wonderland für mich noch ein letztes Mal in Szene setzt. Mehr Glitzer geht nicht.
www.switzerland.com