Die Ente ist knusprig goldbraun gebraten. Ihr betörend verführerischer Duft erfüllt den gesamten Restaurantraum im Potong. Die krosse Haut glänzt, das rosa gebratene Brustfleisch ist supermürb und saftig, der Fettanteil des Vogels genau richtig. Ein Traum von einer Ente, die zu Recht ausschließlich mit schwärmerischen Superlativen bedacht wird. An der Seite, akkurat auf der „Lazy Susan“-Drehplatte angerichtet, locken auch noch das gebratene Entenhirn, Magen und Herz als Ragout, Mapo-Tofu mit Keulenfleisch sowie zahlreiche Gemüse und fermentierte Gewürze.
Diese Ente, die im wahrsten Sinne des Wortes der Hauptgang im 20-Gänge-Menü des Restaurants Potong ist, darf als eine Essenz der „Progressive Thai-Chinese-Cuisine“ von Chef Pam angesehen werden. Seit der Lokaleröffnung 2021 freut sich das junge Team aus Bangkok serienweise über Preise und Ehrungen. Einstweiliger Höhepunkt Anfang dieses Jahres war der Titel „Asia’s Best Female Chef 2024“, verliehen von The World’s 50 Best Restaurants.
Beinahe noch spektakulärer als die Menüs der 35-jährigen Küchenchefin ist das Haus, in dem all das stattfindet. Das 120 Jahre zählende denkmalgeschützte Gebäude im ältesten Teil von Bangkoks Chinatown gehörte ihrem Großvater, der dort bis in die späten 1950er-Jahre lebte. Später vermietete er die einstige Apotheke und Produktionsstätte für traditionelle chinesische Kräutermedizin als Einzelhandelsgeschäft. Als 2019 die Mieter auszogen, sah Pam das Gebäude zum ersten Mal von innen. Sie beschloss, dort ihr Restaurant zu etablieren.
„Als wir das Projekt Potong starteten, dachten unsere Freunde, wir hätten den Verstand verloren“, lacht Pam im Rückblick. „Abgesehen vom erforderlichen Aufwand glaubte niemand an das Stadtviertel, aus dem damals gerade viele angestammte Bewohner wegzogen.“
Als das Haus in der Zeit um 1900 gebaut wurde, war allein schon die Errichtung Stadtgespräch. Es war von Beginn an auf Qualität und Langlebigkeit ausgerichtet, mit Handwerkstechniken, die ihrer Zeit voraus waren. Vor allem der unverwechselbare sino-portugiesische Stil machte das damals höchste Gebäude in Chinatown einzigartig.
Authentisches Kleinod in Chinatown
Noch aufwendiger war dann die Renovierung des fünfstöckigen Gebäudes. Sie nahm über zwei Jahre in Anspruch. Es bedurfte vieler akribisch arbeitender Spezialisten, um die Originalität des Gebäudes zu erhalten und es zugleich dem heutigen Zweck zuzuführen.
So konnten etwa größere Einrichtungsgegenstände und Küchengeräte ausschließlich durch einen kleinen, ein mal ein Meter großen Schacht auf die jeweilige Etage transportiert werden. Heute befindet sich an der Stelle des Schachts ein winziger kabinenloser Aufzug. Darin finden gerade einmal zwei schlanke Personen Platz.
„Nicht anlehnen“, mahnen die Mitarbeiter die Gäste, die sie damit in den fünften Stock schicken. Dort befindet sich neben einer Bar auch eine Terrasse, die einen fabelhaften Ausblick auf das Häusermeer und Gassengewirr des alten Chinatowns bietet. In den letzten Jahren hat sich das Stadtviertel zwischen Charoen Krung und Song Wat nicht zuletzt wegen der Gastronomie des Potong und vielen anderen, neu hinzugezogenen Entrepreneurs in ein cooles Szeneviertel verwandelt.
Zum Aperitif kommen erste kleine Häppchen, etwa ein getrocknetes Zimtblatt mit geräucherter Pflaume oder auch ein paar Scheiben chinesischer Wurst, die ihre Verwandtschaft mit italienischer Salami nicht verleugnen kann.
Danach lernt man die steilen knarrenden Holztreppen kennen, bestaunt weitere Interieurdetails, nimmt dann an den Tischen im zweiten oder dritten Stock Platz und freut sich auf ein 20-Gänge-Menü. Klingt möglicherweise erschreckend viel, ist dabei aber kurzweilig, unterhaltsam und niemals belastend.
„Potong“ bedeutet auf Chinesisch „einfach“ und war der ursprüngliche Name der Familienapotheke. Chef Pam benutzt den Namen aus Respekt vor den Ahnen, aber auch mit der Einsicht, dass wahre Einfachheit der Schlüssel zur Brillanz sein kann.
Scheinbare Einfachheit in kontrastierenden Gegensätzen ist im ganzen Haus zu finden. Das Alte und das Neue ergeben hier ein spannendes Miteinander. Von der Architektur über die Malereien bis hin zur Einrichtung und den Speisen.
Überall sind neben alten Interieurobjekten Zeichnungen, Briefe und Fotos der verschiedenen Generationen von Chef Pams Familie zu sehen. Eine Zeitreise, die Erinnerung schafft und das Heute zu verstehen hilft.
Anstelle von Pharmazeutika lagern in den Regalen heute große Behältnisse mit Scobys, den für die Herstellung von Kombucha notwendigen Teepilzen. In anderen Gefäßen befinden sich selbst gemachte Sojasaucen, Essig, Fisch-Garum, allerlei Pasten und viel Eingelegtes.
Geniale Fusion verschiedener Kulturen
Chef Pam, mit vollem Namen heißt die 35-Jährige Pichaya Soontornyanakij, ist die Tochter einer Thai-Chinesin und eines Australiers. Nicht zuletzt durch die Mutterküche daheim ermutigt und motiviert, wandte sie sich dem professionellen Kochen zu. Mit 21 gewann sie einen Preis für Nachwuchsköche, studierte in Folge am Culinary Institute of America in New York und arbeitete danach beim renommierten Küchenchef Jean-Georges Vongerichten. Zurück in Bangkok wurde sie Jurymitglied bei Top Chef Thailand und gründete das Restaurant The Table sowie ein privates Dining-Projekt.
Ihre Küche ist tief in der thailändisch-chinesischen Tradition verwurzelt. Das Progressive kommt durch Chef Pams Know-how, kombiniert mit aktuellen Techniken und westlichen Stilelementen.
Alles hier umarmt einen auf herzlich-köstliche Weise. Etwa wenn eine Art Pasta-Gang – konkret Eiernudeln, Morcheln, Shrimps und Kaviar – zu einer betörenden Umami-Textur-Sensation kombiniert wird. Man will auch nicht genug bekommen, wenn eine Tasse Chawanmushi mit Abalone-Muschel-Würfeln und Croûtons für die Texturvielfalt zu Tisch kommt.
Da fasziniert der Gang mit der Blau- und der Mangrovenkrabbe, mittlerweile ein Signature des Potong. In einem Blaukrabbenbein steckt das ausgelöste, nur kurz gegarte Krabbenfleisch, beträufelt mit etwas brauner Butter. Der wahre Spaß wartet aber an der Unterseite des geöffneten Mangrovenkrabbenpanzers. Darin sind jeweils an der Seite eine Sauce aus der Emulsion von Innereien und Rogen sowie Schwarzer-Pfeffer-Marmelade aufgestrichen. Mit getoasteten Brotstreifen ergibt diese Kombination das denkbar beste Krabbensandwich.
Fünf Sinne, fünf Elemente
Wenn man über thailändische Küche spricht, redet man über die jeweiligen Regionsküchen im Norden und Süden, eventuell auch über die zentrale oder nordöstliche Küche. „Thai-Chinesisch ist da nur eine Unterkategorie“, erklärt Chef Pam. „Aber die Chinesen sind vor über 800 Jahren eingewandert, haben eine Menge Esskultur mitgebracht und sind nicht zuletzt durch Chinatown auch sehr präsent.“
Im Mittelpunkt der Menüs im Potong stehen die fünf Sinne und die fünf Elemente. „Die Elemente sind Salz, Säure, Gewürze, Maillard-Reaktion und Textur.“ Bei vielen Gerichten sollen die Gäste die Speisen mit den Händen angreifen, um auch die Temperatur und die Texturen zu erfassen. „Da geht es dann um die Philosophie der fünf Sinne bezüglich Optik, Klang, Geruch, Geschmack und Berührung.“ Damit, ist Pam überzeugt, ist die Auseinandersetzung und Erfahrung mit den Speisen unvergleichlich intensiver.
Anfassen, riechen, spüren, schmecken – das ist von den Gästen gefordert, wenn Chef Pam ihre Variationsideen zu einem Produkt präsentiert. Da erfährt etwa Banane nicht nur unterschiedliche Zubereitungen und Aggregatzustände, sondern auch Begleitungen wie Fisch-Garum und Hühnerleber.
Oder der Pomfret, bei dem das Dry-aged-Fischfleisch als ziemlich bissfeste Miniroulade serviert wird, ehe als Highlight auch noch die Fischgräte kommt. Sie ist, knusprig frittiert und mit Gewürzpulver bestreut, ein grandioses Knabbervergnügen.
Chef Pam weiß, dass „wenn man ein altes Gericht mit einer alternativen modernen Methode nachkocht, man zuerst die traditionelle Methode verstehen und beherrschen muss“. Der Weg dorthin war oft ein mühsamer. Etwa wenn sie versucht hat, typisch chinesische Maw-Gerichte, man verwendet dafür die Fisch-Schwimmblase, lieber durch Frittieren als durch langsames Köcheln herzustellen. „Ein Desaster. Ich mache es jetzt so, wie es die Chinesen schon seit Hunderten von Jahren tun.“
Die denkbar beste Ente
Für ihre berühmte Ente brauchte es mehr als ein Jahr für die absolute Perfektion. Letztlich entstand dabei eine Mischung aus traditioneller und moderner Methode. „Wir verwenden Enten mit einem Gewicht von zwei Kilo von einem Bauern aus Chachoengsao im Osten Thailands. Sie haben das perfekte Verhältnis von Haut, Fleisch und nicht übermäßig viel Fett. Dann marinieren wir das Innere mit einer 5-Spices-Gewürzmischung und blanchieren Teile der Haut mit einer Essigmarinade. 14 Tage Abhängen im Kühlhaus machen die Haut für das Braten schön trocken und das Fleisch sehr zart. Die Ente wird dann bei sehr hoher Hitze 13 Minuten gebraten. Dadurch erhält das Fleisch eine sehr feine Textur und eine sehr knusprige Haut.“
Über die Geschichte und Beschaffung der verwendeten Rohstoffe zu erzählen, ist in der guten Gastronomie mittlerweile weltweit eine Selbstverständlichkeit. Im Potong erhält derlei Storytelling allerdings erstaunlich neue Facetten, wenn zum Beispiel die Geschichte der verwendeten Kokosnuss in Form eines kleinen Comic-Heftchens unterhaltsam-spielerisch illustriert wird. Der Perfektionismus reicht so weit, dass der Comic sogar in verschiedenen Sprachen, auch auf Deutsch, serviert wird. Zu anderen Themen, wie etwa den nachhaltig im Meer arbeitenden Fischern, kann man sich am eigenen Handy via QR-Code ein Video ansehen. Eine Gourmetinszenierung mit allen Mitteln und Medien.
Thailands neues Selbstverständnis
In einer Stadt, in der man alle paar Meter in kleinen Restaurants und an Straßenständen gutes Essen bekommt, wo die legendäre Streetfood-Ikone Jay Fai für ihr Krabbenomelett sogar einen Michelin-Stern bekam, ist es als Küchenchef besonders schwer, die eigene Identität zu finden.
Selbstverständlich geht es um das Essen an sich, aber noch viel mehr um die eigene Geschichte, die Wurzeln der Familie, die Erinnerungen der Kindheit und wie man dann selbst erwachsen geworden ist.
Chef Pam ist ein Teil der aktuellen, atemberaubend rasanten Entwicklung der thailändischen Spitzengastronomie. „Wir sind mehr als nur Pad Thai und Tom Yam. Es gibt eine weit zurückreichende Historie der thailändischen Küche. Und jetzt kommen laufend neue Aspekte dazu.“
Noch vor zwanzig Jahren waren Restaurants im europäischen Sinn in Bangkok eine Seltenheit. Gekocht und gegessen wurde in erster Linie auf Märkten und an Straßenständen. „Das sogenannte feine Essen war französisch, italienisch oder japanisch und wurde meistens in großen Hotels serviert.“ Dass Thailänder in ein thailändisches Restaurant gehen und dort für ein Essen vergleichsweise viel Geld bezahlen, geschieht erst seit wenigen Jahren.
Neben allerlei Drink-Kreationen, zum Teil auch alkoholfrei wie Tee-Cocktails oder Kombucha, bietet die Potong-Weinkarte eine bemerkenswert individuelle Auswahl mit vor allem Natural Wines, Champagner und auch würzig-mittelstarken Rotweinen, die ausgezeichnet zu Pams Küche passen. Der Service agiert auch in diesem Bereich sehr kompetent, weiß, so wie auch bei den Erklärungen zu Speisen und verwendeten Produkten, gut Bescheid, ohne jemals ins stupide Aufsagen von auswendig gelernten Infos abzugleiten. Als Maître du Restaurant leitet Sacha Di Silvestre das Serviceteam mit Umsicht und Herzlichkeit. Er ist ein guter Link zwischen westlicher Routine und eleganter asiatischer Zurückhaltung.
Nach dem letzten Gang, dem Glückskeks, geht es dann möglicherweise noch hinauf in den vierten Stock, in die Opium Bar, deren durch den Namen vermutete Verruchtheit vor allem im vielfältigen Angebot an Cocktails und Spirituosen besteht. Matteo „Matt“ Cadeddu hat hier für jeden Wunsch und Gusto das passende Glas parat.
Zukunftsperspektiven
Nicht nur für die Küchenchefs und Gäste sind es neue Zeiten, sondern klarerweise auch für potenzielle Mitarbeiter. „Wir haben über 30 Gäste pro Abend und über 50 Mitarbeiter.“ Bei der Personalsuche ist für Chef Pam die Einstellung zum Job von entscheidender Bedeutung. „Ich muss spüren, dass die Menschen motiviert sind, dass sie sich weiterentwickeln wollen und Karrierechancen sehen. Erfahrung und Qualifikation kann ich in unserer jungen Branche derzeit noch nicht voraussetzen. Letztlich bilden wir die Mitarbeiter oft bei uns im Betrieb selbst aus. Man braucht Geduld.“
Kürzlich hat Pam auch die Idee eines Women-for-women-Stipendiums realisiert. Gemeinsam mit dem American Women’s Club of Thailand wird dabei jährlich eine Highschool-Absolventin aus einer ländlichen Region für ein einjähriges Praktikum bei Potong in Bangkok ausgewählt. Inkludiert ist die finanzielle Unterstützung für ein Leben in der Stadt. „Wir können mit monatlich 6.000 Thai-Baht die Zukunft einer jungen Frau entscheidend verändern“, sagt Chef Pam, die fest entschlossen ist, dieses Förderprogramm auf eine breiterfpatangfe Basis zu bringen. Das 20-Gänge-Menü im Potong kostet übrigens praktisch gleich viel. Wer umrechnen will: Wir sprechen von 150 Euro.
Artikel aus A la Carte 03/2024