Als ich vor drei Jahren damit begonnen habe, einen Roman über Minik zu schreiben, einen nordgrönländischen Inuit, der 1897 nach Amerika verschleppt wurde, wäre mir nicht im Traum eingefallen, die größte Insel der Welt einmal im Fokus des internationalen Interesses zu sehen. Auf den meisten Landkarten wirkt Grönland riesig, größer als Australien, breiter als Südamerika oder China. Vielleicht ist Donald Trumps Einverleibungswunsch mit dieser Verzerrung der Mercator-Projektion erklärbar? Dabei ist Grönland „nur“ fünfundzwanzig Mal so groß wie Österreich und bevölkerungsärmer als St. Pölten oder Venedig (ohne Touristen): 57.000.
Nördlichste Stadt der Welt
Allerdings, und das macht es so interessant, ist es immens reich an Bodenschätzen und strategisch günstig gelegen. Über dreißig Militärbasen hat die USA während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs dort errichtet. Bis auf eine, die Pituffik Space Base im äußersten Norden der Eisinsel, wurden inzwischen alle aufgelassen. Ob in der ehemals Thule Air Base genannten Station tatsächlich Raketen mit Nuklearsprengköpfen lagern, wie manche Einheimischen behaupten? Jedenfalls sollen dort immer noch dreitausend Armeeangehörige stationiert sein, gibt es Sportanlagen, ein Casino, eine Disco und angeblich sogar ein Bordell. Wie es der Zufall will, stammt mein Romanheld Minik just aus dieser Gegend, weshalb ich vor eineinhalb Jahren dort gewesen bin, in Qaanaaq, der nördlichsten Stadt der Welt.
77. Breitengrad, 300 Einwohner, ein einziges Hotel mit fünf Zimmern, kein Gastronomiebetrieb, eine dänische Ärztin, so gut wie keine Autos. Es gibt belebtere Orte als diese Siedlung aus bunten Holzhäusern, trotzdem war Qaanaaq für mich einer der aufregendsten Plätze der Welt. Dabei wäre ich fast nicht hingekommen, hätte ich das Romanprojekt doch beinahe abgebrochen. Als mich nämlich ein Jahr zuvor eine Reise nach Kanada führte, bildete ich mir ein, auch Miniks Grab in Clarksville, New Hampshire, besuchen zu müssen. Mühsam gelangte ich nach vierstündiger Fahrt zum kleinen Friedhof, wo mein 1918 verstorbener Romanheld begraben liegt, um auf einem komplett zugeschneiten Gottesacker zu stehen. Unmöglich, hier Miniks Grabplatte zu finden. Verzweifelt wühlte ich im harschen Schnee – ohne Erfolg. Stellte sich das Universum gegen mein Projekt? In diesen Dingen bin ich etwas esoterisch. War es Miniks Geist nicht recht, dass ein österreichischer Schriftsteller über ihn schrieb? Kurze Zeit später lernte ich aber mehr oder weniger zufällig eine Ethnologin und führende Grönlandexpertin kennen – Verena Traeger, und plötzlich taten sich alle Türen auf, kam ich an die relevante Literatur und konnte Nordgrönland bereisen. Der Roman war gerettet!
Wie eine Fata Morgana
Gibt man bei Suchportalen Qaanaaq ein, findet man weder Flüge noch Unterkünfte, ist es, als würde der Ort nicht existieren. Mit Verena Traegers Hilfe gelang auch das. Hatte es sich Miniks Geist etwa anders überlegt? Am letzten Tag meiner Reise schien es, als würde er noch einmal schwanken, meinte ich, Nordgrönland nicht mehr lebend zu verlassen, doch davon später.
Beim Hinflug trafen wir Gregor Schlierenzauer, den Skispringer, der ein Nobel-Restaurant in Ilulissat besuchen wollte. Uns zog es weiter in die nördlichste Stadt der Welt. Auch in Qaanaaq ist der Klimawandel spürbar. Stechmücken, schrumpfende Gletscher und verschobene Zyklen der Tiere.
Was will man an so einem abgeschiedenen Ort, wenn man kein Klimaforscher ist oder über einen Romanhelden recherchiert? Die Landschaft ist atemberaubend, aber unbarmherzig. Neben der Sahara war dieser weltabgeschiedene Ort der beeindruckendste, den ich je besucht habe. Ein Wunder, dass es Menschen gelungen ist, hier zu überleben. Vereinzelt gibt es Rentierherden, sonst nur das, was das Meer hergibt: Robben, Walrösser, Narwale – Meeressäuger, deren dunkles Fleisch wie in Salzwasser gefallenes Rind schmeckt. Die Spezialitäten sind Narwalhaut mit Speck oder in einer Robbe fermentierte Krabbentaucher, die schleimig aussehen und wie Gorgonzola in Babywindel schmecken.
Freundlich, aber schweigsam
In den zwei eisfreien Sommermonaten bewegt man sich mit Booten oder Kajaks, während im restlichen Jahr Hundeschlitten das Fortbewegungsmittel sind. Motorschlitten wie in Alaska sieht man kaum. Man hat die traditionelle Lebensweise bewahrt. In Kanada und Alaska ist die Bezeichnung Eskimo verpönt, die Grönländer lachen drüber, bezeichnen sich selbst so. Sie sind ein freundliches, aber schweigsames Volk ohne Nachbarn oder Fremdenhass, auch für Krieg gibt es kein Wort. Weißen Forschern verdankt sich das Wissen über die Polareskimos, wie man sie damals nannte. Über Minik gibt es drei Sachbücher, allesamt von Westlern. Natürlich tauchte irgendwann die Frage auf, ob ich als Österreicher seine Geschichte erzählen darf oder ob das eine kulturelle Aneignung bedeutet. Mit dem Diskurs will ich Sie nicht langweilen, der Roman ist Antwort genug. Dass er in einer Zeit erscheint, in der Grönland in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten ist, zeigt, dass das Universum (und vielleicht auch Miniks Geist) nicht ganz dagegen ist.
Bedrohte Idylle
Was die Grönländer und ihre Geister von Trumps Ambitionen halten? Bestimmt nicht viel. Würde man beginnen, hier Bodenschätze abzubauen, wäre es vorbei mit der Idylle einer unberührten Landschaft. Dazu Tausende Arbeiter, die in ihrer Freizeit das Abenteuer suchen … Die Konsequenzen kann man sich denken: Jagdausflüge, Bordelle, Spielhallen, Bars, Funsport.
Der Lebensraum ist ungastlich. Die Inuit haben hier mit Erfindungsreichtum und Geschick überlebt. Bereits die aus Schichten bestehende Kleidung ist faszinierend: Vogelbälger, Schneehasenfell, Moos, Hundefell, alles wird verwendet. Die bei uns verbreitete Vorstellung, Inuit wären drollige Menschen, die in Schneehäusern leben, ist Unfug. Iglus baute man auch früher nur auf Reisen, sonst lebte man in Erdhäusern oder im Sommer in Zelten.
Ohne lebensgefährliche Jagd hätten die Menschen hier nicht überlebt. In Alaska oder Kanada jagt man längst mit Gewehren, in Qaanaaq immer noch mit Harpunen und Kajaks. Die Inuit hatten keine Häuptlinge, nicht einmal Chefs, und mit der Ehe nahm man es nicht so genau. Frauentausch. Angeblich ging es zu wie in einem arktischen Swingerklub. Jede Möglichkeit, für Nachwuchs zu sorgen, wurde genützt. Es ging ums Überleben, und wer der Gemeinschaft zur Last fiel, wurde kurzerhand entsorgt. Warmherzigkeit und gnadenlose Brutalität lagen eng beisammen. Heute versuchen die Leute zwar, ihre traditionelle Lebensweise zu bewahren, aber bereits vor Trump haben Kleinkinder Handys, lieben die Erwachsenen Chips und Cola.
Vier Monate ohne Sonne
Alkohol? Man muss nicht nach einem Grund suchen, um zu trinken: Vier Monate lang zeigt sich die Sonne nicht, ebenso lange verschwindet sie nicht vom Himmel, dazu eine Perspektivenlosigkeit, das Gefühl, Mensch zweiter Klasse zu sein, am Rand der Welt zu leben. Den Namen Kalaallit Nunaat für Grönland hat man nicht selbst gewählt, ins Ausland reisen darf man nur alle zwei Jahre und auch dann nur über Kopenhagen, vieles der „sanften“ Kolonisation Dänemarks ist noch unaufgearbeitet: Zwangsverhütung, Sozialexperimente, radioaktive Kontaminierung infolge einer abgestürzten B-52. Genug Gründe, sich volllaufen zu lassen. Als Akt freiwilliger Selbstbeschränkung wird im Supermarkt nichts Hochprozentiges verkauft, nur Bier und Wein.
Die Inuit sind kein serviles Volk. Im ganzen Land gibt es kein grönländisches Restaurant, nur Asiaten oder Dänen. Die Grönländer wollen unabhängig sein. Ob das funktioniert, wenn China und die USA nach den Bodenschätzen gieren? Noch ist Dänemark eine Art böse Schwiegermutter, die mit Süßigkeiten (Sozialleistungen) und Schutz (Landesverteidigung) versorgt. Nicht alle Grönländer sind damit glücklich, sie empfinden Westler als geschwätzig, aufdringlich und unbescheiden. Die Natur ist wunderbar, mächtig, aber auch brutal. Selbstmord und Alkoholismus sind virulent. Aber die in sich ruhenden Menschen faszinieren.
Die Geschichte von Minik
Minik, mein Romanheld, wurde 1897 mit fünf weiteren Inuit von dem Polarforscher Robert Peary nach New York gebracht. Während seine Verwandten bald an Lungenentzündung starben, blieb er fast zwei Jahrzehnte in Amerika, wo er sich wie ein Fremder fühlte. Seine Geschichte ist die eines Zerrissenen, Betrogenen, eine Geschichte der Migration. Mich hat daran der fremde Blick interessiert. Wie nehmen Ureinwohner die Zivilisation wahr? Das birgt viel Potenzial für groteske Situationen, als Minik etwa Schneeschaufler sah, bekam er einen Lachanfall, weil er diese Tätigkeit für komplett absurd hielt. Enten im Park oder Schoßhündchen waren potenzielle Nahrung. Die Leute in Qaanaaq kennen seine Geschichte, aber obwohl er der Bekannteste aus ihrem Volk ist, wird er nicht geschätzt. Ein schlechter Jäger, sagt man. Das zählt hier mehr als Ruhm in der Welt. Und Robert Peary, der den Leuten die Errungenschaften der Zivilisation gebracht hat? Ein egoistisches Arschloch, sagt einer seiner Nachkommen.
Fahrt zu den Eisbergen
Peary hat mit einem Inuit-Mädchen zwei Söhne gezeugt, einer der daraus entstandenen Nachkommen ist Aleqatsiaq Peary, der mich am letzten Tag meiner Reise mit seinem kleinen Schinakel in die Inglefield Bucht gefahren hat. Bereits beim Wegfahren muckte der Motor, und als wir dann weit draußen waren, inmitten von gigantischen Eisbergen auf einer ruhigen, aber eiskalten See, fiel der Motor ganz aus. Aleqatsiaq sagte, er müsse die Zündkerze wechseln. Unter normalen Umständen kein Problem, aber Pearys Nachkomme litt an Parkinson. Wie er den Außenbordmotor hochhob, die Abdeckung entfernte und mit zitternden Händen die Zündkerze wechselte, war ich überzeugt, das Ufer nicht wieder lebend zu erreichen. Hier hätte Miniks Geist die Möglichkeit gehabt, es sich noch einmal anders zu überlegen. Wir haben es dann doch geschafft und ich konnte mit dem Grönland-Roman beginnen.
Was will ausgerechnet hier der polternde, maishaarige Donald Trump, der so ganz und gar nicht nach Grönland passt? Die Bodenschätze, Macht über künftige Handelsrouten und einen strategisch günstigen Platz für Raketen! Was die Grönländer davon halten? Der Mensch, so lautet eine ihrer Weisheiten, darf am Lauf der Welt zwar teilhaben, ihn aber nicht verändern. Wie Trump mit Indigenen umspringt, hat man bereits am ersten Tag seiner Regentschaft gesehen, als er den nach einem Ureinwohnerwort bezeichneten Denali wieder in Mount McKinley umbenannte. Den ihre Tradition bewahrenden Grönländern würde als US-Bürgern wohl ein entfremdetes Leben in Reservaten drohen – Proletarisierung und Touristenattraktion.
Teile und sei dankbar
Auch Minik, mein Romanheld, hat mit Amerika keine guten Erfahrungen gemacht, er wurde mit falschen Versprechungen betrogen, belogen und von Möchtegernnordpoleroberern missbraucht. Heut steht seine Büste im Gemeindeamt von Qaanaaq, während die von Peary gestohlenen heiligen Steine seines Volkes (drei Meteoriten) im Naturhistorischen Museum in New York ausgestellt sind. Ihr Schicksal ist den Grönländern Warnung genug. Die meisten leben noch nach der Devise: Nimm dir nur so viel du brauchst, teile und sei dankbar. Ein Lebensmotto, das Leute wie Trump und Musk wohl nie verstehen werden.
„Hundert Wörter für Schnee“
Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, zählt zu den erfolgreichsten Autoren in Österreich und wurde u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-, dem Arthur-Schnitzler-, dem Nicolas-Born- und dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Nach den historischen Romanen „Das Floß der Medusa“, „Die Eroberung Amerikas“ und „Einsteins Hirn“ erschien im Februar Franzobels Grönland-Roman „Hundert Wörter für Schnee“ im Verlag Zsolnay.