Story

Jugendkriminalität: „Elternbildung statt frühere Strafen!“

Politische Debatten und Schlagzeilen in den Medien: In den vergangenen Monaten haben zahlreiche Fälle von Jugendkriminalität für Aufsehen gesorgt. Für Veronika Lippert vom Verein Elternwerkstatt ist klar: Um das Problem an der Wurzel zu packen, müssen Eltern besser unterstützt werden.
Vater und Sohn in einem Park
Gute Eltern-Kind-Beziehungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Prävention von Jugendkriminalität. © Getty Images

Einbruch, Raub, Sachbeschädigung, Körperverletzung: Straftaten wie diese scheinen zunehmend von jungen Menschen begangen zu werden. In den vergangenen Monaten war in der öffentlichen Diskussion sogar von einer „Explosion der Jugendkriminalität“ die Rede. Tatsächlich zeichnet die Anzeigenstatistik der österreichischen Polizei ein besorgniserregendes Bild: 2024 gab es 12.049 Anzeigen gegen Tatverdächtige im Alter zwischen zehn und 14 Jahren, das ist eine Verdopplung seit 2020.

Allerdings ist diese höhere Zahl an Anzeigen nicht mit einer dementsprechend höheren Zahl an jugendlichen Straftätern gleichzusetzen. Denn auch eine erhöhte öffentliche Sensibilität, die verbesserte Infrastruktur der Polizei und die Möglichkeit, per Handy mit der Polizei in Kontakt zu treten, schlägt sich in der Statistik nieder. Ebenso wie Intensivtäter bzw. „Systemsprenger“, die mehr als 50 Straftaten pro Monat verüben: 2024 waren drei Jugendliche alleine für 28 Prozent der Straftaten von unter 18-Jährigen bei Einbrüchen in Österreich verantwortlich.

Unabhängig von den Zahlen sind Strategien für den Umgang mit Jugendkriminalität gefragt. Während die einen eine Senkung des Strafmündigkeitsalters – in Österreich liegt dieses bei 14 Jahren – fordern, wünschen sich andere verstärkte Sozialarbeit.

schauvorbei.at hat mit Veronika Lippert, Elterntrainerin und Obfrau des Vereins Elternwerkstatt, über mögliche Lösungen gesprochen.

schauvorbei.at: Wie viel Verantwortung tragen wir als Gesellschaft für jugendliche Straftäter?
Veronika Lippert: Jugendliche werden nicht im luftleeren Raum straffällig. Ihr Verhalten ist oft Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher Herausforderungen. Armut, fehlende Bildungs- und Freizeitangebote, instabile Lebensverhältnisse oder mangelnde psychosoziale Unterstützung hinterlassen Spuren. Was dabei häufig übersehen wird: Jugendliche befinden sich in einer besonders sensiblen Entwicklungsphase. Die Suche nach Identität, Zugehörigkeit und Orientierung braucht Halt – nicht Strafe.

Jugendliche brauchen stabile Beziehungen, Menschen, die an sie glauben und ihnen echte Perspektiven eröffnen. Wer nur auf Strafen setzt, ohne die Ursachen zu hinterfragen, lässt Chancen auf echte Veränderung ungenutzt.

Die Elternwerkstatt setzt sich deshalb dafür ein, dass Schulen nicht nur Orte des Lernens, sondern auch Orte der Beziehung und Bindung sein sollen. Denn Kinder verbringen fast so viel wache Zeit in Bildungseinrichtungen wie zu Hause. Dort soll es nicht noch mehr Druck geben, sondern ein stabiles Gegenüber.

Bildung ist der Sprung vom Wissen ins Herz. Und genau diesen Sprung brauchen Kinder von Beginn an.

schauvorbei.at: Es gibt sicherlich vielfältige Ursachen, warum Jugendliche straffällig werden. Welche Bedeutung messen Sie der jeweiligen Familiensituation bei?
Veronika Lippert: Die Familie ist der erste und wichtigste Lernort für Kinder. Hier erfahren sie – im besten Fall – Sicherheit, Orientierung und emotionale Nähe. Wenn Eltern jedoch selbst stark belastet sind, zum Beispiel durch finanzielle Sorgen, psychische Erkrankungen oder ein angespanntes Lebensumfeld, wird es schwierig, diese Rolle verlässlich auszufüllen.

Kinder brauchen Resonanz: Menschen, die ihre Gefühle ernst nehmen und ihnen helfen, sich selbst zu verstehen. Wenn das fehlt, verlieren sie oft den Zugang zu sich selbst – und damit auch die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Das kann zu Verhaltensauffälligkeiten führen, die später eskalieren.

Deshalb ist Elternbildung kein Nice-to-have, sondern essenziell. Elternbildung ist Gewaltprävention. Eltern brauchen Entlastung, Anerkennung und konkrete Unterstützung. Denn wer ständig am Limit ist, kann nicht präsent und zugewandt bleiben. Hier soll es ein deutliches politisches Signal geben: mehr direkte Hilfe für Familien, weniger bürokratische Hürden.

schauvorbei.at: Was sind aus Ihrer Sicht die wirksamsten Strategien, um Jugendkriminalität präventiv zu begegnen?
Veronika Lippert: Prävention beginnt nicht mit der ersten Straftat, sie beginnt mit dem ersten Lebensjahr. Es braucht frühe, gut vernetzte und aufeinander abgestimmte Angebote: gute Bildung, starke Sozialräume, zugängliche Jugend- und Elternarbeit.

Wenn Eltern gestärkt werden, profitieren auch die Kinder. Jugendliche brauchen echte Perspektiven, stabile Beziehungen und das Gefühl, dazuzugehören. Was sie nicht brauchen, ist Misstrauen, Kontrolle oder Abwertung.

Erfolgreiche Prävention beruht auf Bindung, Vertrauen und klarer, respektvoller Führung. Und sie braucht uns alle: Nachbarn, Lehrer, Sozialarbeiter, Eltern. Wenn Orte der Begegnung wieder zu echten Gemeinschaftsräumen werden – das Grätzl, der Park, der Schulhof –, entsteht ein Netz, das trägt. Und am Ende zählt immer die Qualität der Beziehungen, nicht die Anzahl der Maßnahmen.

Geht’s uns Eltern gut, geht’s unseren Kindern gut – und dann geht’s auch der Gesellschaft gut.

schauvorbei.at: Mit welchen Angeboten unterstützt die Elternwerkstatt?
Veronika Lippert: Wir begleiten Eltern dabei, ihren Erziehungsalltag sicherer und gelassener zu gestalten. Unsere Workshops, Seminare und Gruppenangebote orientieren sich an den realen Fragen, die Mütter und Väter mitbringen: Wie setze ich Grenzen, ohne zu verletzen? Wie bleibe ich im Gespräch, auch wenn es schwierig wird? Wie achte ich auf mich selbst, ohne mein Kind aus dem Blick zu verlieren?

Wir arbeiten ressourcenorientiert und auf Augenhöhe – und vor allem alltagsnah. Und wir gehen dorthin, wo Eltern ohnehin schon sind: auf Feste, in Parks, zu Schulen. Denn Erziehung soll kein exklusives Thema für „Bildungsbürger“ sein – sie betrifft uns alle.
Bei uns sind wirklich alle Eltern willkommen. Unabhängig von Herkunft, Bildung, Sprache oder Familienform. Wir glauben daran, dass Beziehung nicht bewertet, sondern begleitet werden soll.

 

„Eltern jonglieren heute mit enormen Anforderungen: Sie sollen konsequent, liebevoll, verständnisvoll, leistungsorientiert, digital kompetent und immer gelassen sein – und das oft ohne tragendes Umfeld. Die früher selbstverständliche Unterstützung durch Großfamilie, Nachbarschaft oder Gemeinde ist vielfach weggefallen.“
Veronika Lippert, Obfrau Elternwerkstatt

 

 

 

schauvorbei.at: Mit welchen Anliegen kommen Eltern am häufigsten zu Ihnen?
Veronika Lippert:
Viele Eltern kommen, weil sie das Gefühl haben, an ihre Grenzen zu stoßen. Sie machen sich Sorgen über das Verhalten ihres Kindes, fühlen sich im Alltag überfordert oder fragen sich, ob sie „alles richtig machen“. Häufige Themen sind Wut, Rückzug, Schulverweigerung oder ständiger Streit ums Handy.

Was sie suchen, ist keine Patentlösung, sondern Orientierung – und jemanden, der zuhört, ohne zu urteilen. Wir begegnen ihnen mit Respekt, Offenheit und Vertrauen. Und wir sagen klar: Jede Familie ist anders und jede Familie darf sich Unterstützung holen.

schauvorbei.at: Was sind Ihrer Meinung nach – in Zeiten wie diesen – die größten Herausforderungen für Eltern?
Veronika Lippert: Eltern jonglieren heute mit enormen Anforderungen: Sie sollen konsequent, liebevoll, verständnisvoll, leistungsorientiert, digital kompetent und immer gelassen sein – und das oft ohne tragendes Umfeld. Die früher selbstverständliche Unterstützung durch Großfamilie, Nachbarschaft oder Gemeinde ist vielfach weggefallen. Viele fühlen sich alleine und gleichzeitig einem überhöhten Idealbild von „perfekter Elternschaft“ ausgesetzt.

Hinzu kommt eine widersprüchliche gesellschaftliche Haltung: Familie wird rhetorisch hochgehalten, aber strukturell oft vernachlässigt. Wenn Fürsorgearbeit nur dann als wertvoll gilt, wenn sie bezahlt ist, geht der Blick für das verloren, was Kinder wirklich brauchen: Zeit, Zuwendung und ein stabiles Umfeld.

schauvorbei.at: Wie gelingt es, auch jene Familien zu erreichen, die Angebote wie Workshops oder Seminare benötigen würden, aber sie oft nicht aktiv suchen?
Veronika Lippert: 
Nicht alle Eltern kommen von selbst. Deshalb setzen wir auf persönliche Ansprache, Vertrauen und echte Präsenz. Es reicht nicht, ein Plakat aufzuhängen. Wir sollen dorthin gehen, wo Eltern ohnehin sind: in die Schule, zum Elternsprechtag, auf den Spielplatz oder das Straßenfest.

Niedrigschwellige Angebote – ohne Voranmeldung, kostenlos und lebensnah – senken die Hürde. Und wenn Eltern spüren, dass sie nicht bewertet werden, sondern willkommen sind, entsteht Offenheit.

Wichtig ist aber auch: Die Beziehung endet nicht mit dem Workshop. Nachhaltige Veränderung entsteht nur, wenn Eltern sich wirklich eingebunden fühlen – und erleben, dass sie selbst etwas bewirken können.

schauvorbei.at: Was würden Sie sich von der Politik wünschen?
Veronika Lippert: Wir wünschen uns eine Politik, die hinschaut, bevor etwas schiefläuft – und nicht erst danach. Prävention braucht Verlässlichkeit: Frühförderung, Schulsozialarbeit, offene Kinder- und Jugendarbeit sollen keine freiwilligen Leistungen mehr sein, sondern strukturell gesichert werden.

Elternbildung ist Gewaltprävention. Sie ist ein Schlüssel für sozialen Frieden, Integration und Chancengleichheit. Dazu braucht es gute Rahmenbedingungen, qualifiziertes Personal und den Mut, Ursachen statt Symptome zu bekämpfen.
Und vor allem: eine Politik, die sich an den langfristigen Bedürfnissen von Kindern orientiert, nicht an kurzfristigen Stimmungen oder Schlagzeilen.

schauvorbei.at: Wie stehen Sie zu den Plänen, das Strafmündigkeitsalter zu senken?
Veronika Lippert: 
Eine solche Maßnahme ignoriert grundlegende Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie. Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen. Ihre Impulskontrolle, Urteilsfähigkeit und soziale Verantwortung sind noch im Aufbau.
Statt früher Strafe brauchen junge Menschen mehr pädagogische Begleitung, stärkere Bezugspersonen und niedrigschwellige, therapeutische Angebote. Wer Kinder zu früh kriminalisiert, riskiert, dass sie sich selbst in dieser Rolle verfangen – mit langfristigen Folgen.

Wir plädieren deshalb ganz klar: Nicht der Strafvollzug, sondern verlässliche Beziehungen machen den Unterschied.

schauvorbei.at: Haben Sie vielleicht eine Botschaft oder Empfehlung für Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen?
Veronika Lippert:
Sich Sorgen zu machen, zeigt Liebe. Doch noch wichtiger ist, im Kontakt zu bleiben. Reden Sie mit Ihrem Kind, auch wenn es schwierig ist. Zeigen Sie, dass Sie da sind, auch ohne sofort eine Lösung zu haben.

Perfektion ist nicht das Ziel – Echtheit zählt. Kinder brauchen keine „Supereltern“, sondern Menschen, die zuhören, Rückhalt geben und Fehler eingestehen können.
Und: Holen Sie sich Unterstützung, wenn Sie merken, dass Sie nicht mehr weiterwissen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke und Verantwortungsbewusstsein. Wir sind für Sie da. Ihre Elternwerkstatt.

schauvorbei.at: Vielen Dank für das Gespräch!

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