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27. April 2024
Europa Reise

Weinwandern im Wallis

Genussreise ins Wallis: Erlesene Tropfen munden zwischen leuchtenden Gletschern beeindruckender 4.000er und den steilsten Weinbergen der Welt besonders gut. Auf dem Walliser Weinweg im Rhônetal lässt es sich Schritt für Schritt Richtung Glückseligkeit wandern. 

Panoramaweg entlang Weingärten über der Stadt Sion
Über Sion, dem Hauptort des Wallis, thronen zwei mächtige Burgen. @ Switzerland Tourism/Jan Geerk

Denkt man an die Schweiz, so fallen einem in der Regel meist Uhren, Schokolade und Käse ein. Aber Wein? Nein, mit edlen roten und weißen Tropfen assoziieren wir die Eidgenossenschaft wahrlich nicht. Doch der schöne Kanton Wallis offeriert Vinophilen eine Erweiterung der Assoziationskette zum Thema Schweiz. Das Wallis ist nämlich eine von sechs Schweizer Weinregionen

Mit dem Glas durch die Stadt

Schon seit rund 2.500 Jahren wird im Wallis Wein angebaut. Der Rebensaft war einst mehr ein profanes Alltagsgetränk. Heute setzt das Gros der hiesigen Winzer auf über 5.000 Hektar Anbaufläche ganz bewusst auf Qualität. 

Nicht weniger als 60 verschiedene, mehrheitlich autochthone Rebsorten werden hier angebaut. Auf lediglich vier davon entfallen rund 90 Prozent der Fläche: Pinot noir, Gamay, Silvaner sowie Fendant. Dieser gelte in der Region als die „Muttermilch der Walliser“, wie es Paul formuliert. Der Stadtführer von Sion und einstige Winzer begleitet uns im Zuge einer Sion & Wein-Tour durch die an der Rhône ­liegende Kantonshauptstadt.

Als mir Paul ein kesses Tascherl um den Hals hängt, das unserem Degustationsglas Schutz bietet, potenziert sich die Vorfreude – und das zu Recht. Zwischen Kathedrale, Bischofspalast und Thermenkatakomben sowie im Hexenturm dürfen wir uns stets ein Gläschen vom Guten verinnerlichen – etwa vom Petite Arvine, vom Johannisberg oder vom Fendant. Das mundet nicht nur vorzüglich, sondern bietet sich auf der Tour einfach an. Denn im Hexenturm, einst Ort der Gerichtsbarkeit, Gefängnis und Folterkammer, muss man ohnedies immer wieder schlucken. Stets im Blick bei der rund zweistündigen beschwingten Sion-Tour: die oberhalb der Altstadt thronende Festung Valeria.

Dem Wein auf der Spur

Der Betankung – natürlich nur in gemäßigter Form – folgt die Verbrennung. Durch das Südwestschweizer Rhônetal mäandert nämlich zwischen Martigny und Leuk auf insgesamt 65 Kilometern der Chemin du Vignoble, der Walliser Weinweg. Dieser schlängelt sich zwischen 450 und 800 Metern Höhe durch anmu­tiges alpines Terroir. Hier befinden sich ­einige der steilsten Weinhänge der Welt. Der Pfad verläuft streckenweise entlang von idyllischen Weindörfern und gemütlichen Weinstuben. 

Mann mit Weintrauben in einer Kiste bei der Weinlese
Mehr als 60 verschiedene Rebsorten wachsen auf den Schweizer Bergen. © Switzerland Tourism

Auch die Ausblicke auf die Rhône sowie die 4.000er-Gipfel, die sich mit ihren Gletschern links und rechts auftun, sind vom Feinsten. Wir steigen in Sion in den mit der Nummer 36 markierten Weg ein und marschieren am ersten Tag den gut ausgebauten Pfad Richtung Osten nach Sierre. Bis zur nächsten Degustation und zu einer weiteren Gaumenfreude, die zum Beispiel als Walliser Platte daherkommen kann, sind es immer nur wenige Kehren.

Die vermeintliche Weise „Je stärker der Wein, desto schwächer das Bein“ stellt sich dabei als veritabler Zinnober heraus. Und weil wir nach den kulinarischen Auszeiten immer gleich wieder ein paar Kalorien verbrennen, dürfen wir uns abends im ­Raclette-Tempel Château de Villa wieder dem Käse zuwenden. Fünf verschiedene Sorten werden dort für uns aufgetischt und mit Raffinesse orchestriert. Mit dabei natürlich: eine galante Weinbegleitung.

Der Guide und einstige Winzer Valentin Cina muss am nächsten Morgen auch wirklich nur fünfzehn Minuten auf mich warten. Er treibt mich beim Weiter­wandern freundlich an und lässt uns vorübergehend auf einen Lehrpfad mit 80 Schautafeln ausweichen, die auf die Charakteristika der Landschaft, die Vielfalt an Rebsorten sowie die Weinbautechniken eingehen. Der Weg lotst uns an historischen Speichern vorbei, die auf mit Steinplatten bedeckten Pfosten errichtet worden sind, damit Mäuse und Feuchtigkeit nicht hochklettern können. 

Ein Paar wandert durch die Weinberge des Walliser Weinwegs
65 Kilometer durch eine Märchenlandschaft verläuft der Walliser Weinweg. © Switzerland Tourism/Andre Meier

Valentin kommt beim Wandern nicht aus dem Erzählen heraus, etwa von der beschwerlichen und wirtschaftlich schon lange nicht mehr wirklich lohnenden Arbeit in den zum Teil nahezu senkrecht stehenden Weinbergen. „Aufhören ist für manche bereits eine Option“, erzählt der 65-Jährige, der selbst nur mehr für den Eigenbedarf durch die Weinstöcke wuselt.

Besondere Superlativen

Dass es dann aber wieder launiger wird, ist nicht nur den Weinpausen, sondern auch dem Humor der Eidgenossen geschuldet. So spielt einer der ihren beim Dahinwandern etwa auf die Affinität der Schweizer zu Superlativen an. Dass sie beispielsweise auf ihren langsamsten Schnellzug der Welt besonders stolz sind, lässt einem Schmäh-affinen das Herz aufgehen. 

Rainer Maria Rilke dürfte Land und Leute ebenso geschätzt haben, denn auf dem Weg nach Varen passieren wir in Veyras auch den Turm von Muzot, in dem der ­Lyriker von 1921 bis zu seinem Leukämie-Tod im Jahr 1926 gelebt hat. Statt seiner Verse lesen wir in einem Degustations­garten, in dem rund 50 Walliser Wein­sorten wachsen, dann noch die eine oder andere Traube. Unsere Erkenntnis: erstaunlich, wie extrem unterschiedlich sie zum Teil schmecken. 

Der von unzähligen Weinterrassen und lieblichen Steinmauern umrandete Weg führt uns anschließend weiter zu den von Wind und Wetter geformten Pyramiden der Raspille, einer bizarren Felsformation. Der Fluss Raspille trennt nicht nur das Ober- vom Unterwallis, sondern bildet ­zugleich die Sprachgrenze. Während man Rhône-aufwärts Deutsch respektive Oberwalliser „Dütsch“ spricht, parliert man Richtung Sierre auf Französisch. 

Blick auf die höchsten Weinberge Europas
In Visperterminen befindet sich auf 1.150 Metern Seehöhe der höchste Weinberg Europas. © Valais Wallis Promotion/Christian Pfammatter

Das Thema Sprachen? In der Schweiz ja allgemein ein sehr präsentes, was auch „Zuagraste“ aus Österreich oder Deutschland zu spüren bekommen. Jene, die versuchen, von Beginn an Schwyzerdütsch zu reden, könne man natürlich nicht ernst nehmen, erfahren wir aus erster Hand.

Erwartet wird, dass man für eine bestimmte Zeit schön brav beim Hochdeutschen bleibt. Irgendwann jedoch muss man aber von einem Tag auf den anderen perfekt Schwyzerdütsch sprechen. Den Zeitpunkt kann einem in der Schweiz auch keiner sagen. Ansonsten gilt man als oberflächlich. Wir lachen laut auf. Und wandern weiter nach Varen.

Im Weingut der Bayards

Um die Mittagszeit erreichen wir das nette Örtchen und die Weinkellerei Chevalier Bayard. Während anderswo bereits Drohnen etwa zur Ermittlung des Reifegrads der Trauben bemüht werden, setzen die Bayards fast ausschließlich auf Handarbeit. Die Familie hat vor rund zehn Jahren auf biologischen Weinbau umgestellt. Aktuell sind um die 25 verschiedene Weine im Portfolio, darunter Uraltsorten wie etwa der Gwäss, den man verfeinert hat.

„Der Gwäss war im Mittelalter eine der verbreitetsten Sorten“, erklärt uns die 37-jährige Romaine Bayard. „Mehr als 80 Rebsorten in ganz Europa sind durch natürliche Kreuzung aus ihm entstanden. Bei uns ist er heute ein erstklassiger Apéro-Wein.“ Die Tourismusfachfrau lebt und arbeitet an sich in Zürich, geht aber an den ­Wochenenden im familiären Weingarten zu Werke. 

Auch wir delektieren uns bei den Bayards am Gwäss und an anderen Weinen sowie an einer vorzüglichen Cholera. Der Gemüsekuchen aus Lauch, Kartoffeln und Käse mit dem ungesunden Namen galt seinerzeit als Armeleuteessen. Heute zählt er aber zu den Walliser Spezialitäten. Obwohl die Cholera einst auch in der Schweiz grassierte, scheint eine andere Herleitung des Namens der Feinkost plausibler: Zum Backen wurde die Pfanne mit der Cholera nämlich früher stets in die Kohle gelegt, die in der Region „Chola“ oder „Cholu“ heißt. 

Fugger der Alpen und ein Schlitzohr dazu

Das Ende unserer Schweiztage bringt uns noch nach Brig ins Oberwallis, wo wir den Stockalperweg beschreiten. Der nach ­einem Politiker und Unternehmer benannte historische Saumpfad führt vom gleichnamigen Schloss und Wahrzeichen der Stadt über den rund 2.000 Meter hohen Simplonpass in die ­bereits in Italien gelegene Stadt Domodossola

Das Stockalperschloss in 
Brig
Das prächtige Stockalperschloss in Brig stammt aus dem 17. Jahrhundert. © Switzerland Tourism/Daniel-Loosli

Später laufen wir bei der Besichtigung der charmanten Altstadt zufällig Brigs Stadtpräsidenten Mathias Bellwald über den Weg, der uns spontan durch das imposante Stockalperschloss führt, zwei Flaschen Fendant herbeizaubert und über Kaspar Stockalper extemporiert. Ein Schlitzohr sei dieser „Fugger der Alpen“ gewesen, erklärt Bellwald. Der Stadtpräsident weiter: „Aber er war es schließlich, der unsere Stadt geprägt und den Simplonpass im 17. Jahrhundert zu einer Hauptachse Europas gemacht hat.“

Der von 1609 bis 1691 lebende Stockalper bekleidete im Wallis so ziemlich jedes relevante Amt. Dabei arbeitete er ganz gern auch in die eigene Tasche. Kaspar Stockalper errichtete in Brig Schulen, Klöster und Kirchen sowie natürlich sein Schloss, den größten profanen Barockbau der Schweiz. Stockalpers fulminantem Aufstieg folgte jedoch ein rasanter Abstieg. Er musste fliehen, durfte aber Jahre später nach Brig zurückkehren – verbittert und verarmt. 

Nicht verbittert und verarmt, sondern echt vergnügt und reich an Eindrücken geht es am nächsten Tag wieder nach Hause. Künftig denke ich bei der Schweiz nicht mehr nur an Uhren, Schokolade, Käse und Berge, sondern immer auch an erstklassigen Wein und feinen Humor als Begleitung.