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Proxies im Trend: Die neue Generation alkoholfreier Getränke

Proxy ist in der Getränkebranche das neue Zauberwort für alkoholfreie oder alkoholreduzierte Getränke, die mehr sind als nur freudloser Ersatz für Wein und Spirituosen. Mit Proxies hat sich ein völlig neues Getränkesegment etabliert, das den Anfang einer flüssigen Revolution im Restaurant- und Bar-Business darstellt.
Die ganz große Nummer: Ioakeim Goulidis (r.) und Murray Paterson haben mit ihrem Kopenhagener Start-up Muri den Markt mit hochwertigen, handwerklichen Proxies revolutioniert. © Muri/Andreas Omvik

Wollte man noch vor einigen Jahren alkoholfrei bleiben, musste man bei Wasser darben, picksüße Limonaden oder üppige Fruchtsäfte trinken. Als Menübegleitung begrenzt tauglich, geschmacklich oft eindimensional. Seit einigen Jahren jedoch boomt die Produktion hochwertiger alkoholreduzierter oder alkoholfreier Getränke, die in ihrer Herstellung nicht selten ebenso aufwendig sind wie Wein. Dabei geht es nicht darum, Wein geschmacklich zu imitieren, sondern auf hohem Niveau völlig neue Aromenwelten zu eröffnen. Mit Abstinenz oder religiösem Fanatismus hat man dabei nichts am Hut.

Hochkomplexe Vergärungsmethoden

Es gärt im Tian. Nicht schlechte Stimmung oder Unmut sind der Grund, was sich im Keller des bekannten Wiener Gourmetrestaurants zusammenbraut, sind vielmehr Getränke unter der Leitung von Michael Peceny. Seit mittlerweile acht Jahren kreiert der gelernte Sommelier eigene Getränkebegleitungen – und zwar ohne ein Promille Alkohol. Wo einst die Bar mit Hochprozentigem stand, ist jetzt seine Fermentationswerkstatt. Unzählige Glasbehälter stehen in Reih und Glied mit, wie es auf den ersten Blick scheint, obskurem Inhalt. Alle möglichen Lebensmittel schwimmen da in bunten Flüssigkeiten: Obst und Gemüseschalen etwa landen nicht im Abfall, sondern wandern schnurstracks ins Einweckglas. Mittendrin zwischen Messbecher, Pipetten und Feinwaage Michael Peceny, wie ein Hexenmeister, ganz in seinem Element. Was aussieht wie ein Drogenlabor, entpuppt sich jedoch als harmloser Saftladen. Auch wenn das, was der Sommelier da zaubert, nur mehr wenig mit handelsüblichen Säften gemein hat. Peceny nennt sie lieber Fermente. Mithilfe di­verser hochkomplexer Vergärungsmethoden werden dabei aus or­ganischem Material hochklassige Getränke produziert, die es in ihrer geschmacklichen Vielfalt und Finesse durchaus mit Wein aufnehmen können.

Getränke mit wenig Zucker, feiner Säure, mit Struktur und Aromen, die man bislang nicht kannte – perfekt auf das jeweilige Menü abgestimmt. Das Wissen über Fermentationstechniken habe er sich über die Jahre selbst angeeignet: „Learning by doing“, sagt er und lacht, „es wird ja noch keine Ausbildung dafür angeboten.“ Tatsächlich gibt es derlei hochwertige alkoholfreie Getränke als Ersatz für Wein erst seit einigen Jahren, auch wenn manche der Methoden jahrhundertealte Tradition haben. Wie etwa Bors in Rumänien, eine leicht säuerliche Flüssigkeit aus fermentiertem Maisgrieß und Weizenkleie.

Insbesondere in der Hochgastronomie sind vielschichtige alkoholfreie Getränke, sogenannte Proxies, also Stellvertreter, absolut im Trend. Ein Begriff aus der Militärkunde, der später auch in die IT-Branche Einzug hielt. Alkoholfreie Getränke quasi als würdige Vertreter für Wein. Pecenys Fermente sollen aber erst gar nicht mit Wein verglichen werden, und schon gar nicht will man mit ihnen Weine ersetzen. Es sei eine ganz eigene Kategorie, die jede Menge Zeit und Expertise erfordere, erklärt er. Eigentlich sei er als Weinsommelier ins Tian gekommen, mittlerweile findet er dafür kaum mehr Zeit; seine Kreationen nehmen ihn völlig in Beschlag. Die Nachfrage ist groß, inzwischen werde die alkoholfreie Begleitung fast genauso oft geordert wie die Weinbegleitung. Der Einfachheit halber nennt man im Tian beide bloß Getränkebegleitung. Eine Glaubensfrage wolle man daraus jedoch nicht machen, vielmehr lediglich auch abseits von Wein den Anforderungen verwöhnter Gaumen entsprechen.

Erweiterung des Genusshorizonts

Einzige Regel: Es darf sich nicht nach Verzicht anfühlen. Hochwertige Proxies sollen keineswegs Abstinenz sein, eher eine Erweiterung des Genusshorizonts. Die Zahl der Feinschmeckerlokale, die spannende alkoholfreie Begleitungen anbieten, steigt rasant. Einige, wie das Tian, fermentieren selbst. Den meisten, vor allem kleineren Betrieben, fehlen dafür jedoch die Kapazitäten. Ausgehend von Skandinavien, allen voran Dänemark, produzieren daher inzwischen kleine Start-ups Proxies in ­allen erdenklichen Kate­gorien alkoholfreie oder -reduzierte Getränke. Mittels diverser Fermentationstechniken verwandeln sie Rohstoffe in anspruchsvolle Getränke und offenbaren damit eine ungeahnte Geschmacksvielfalt.

Ein völlig neues sensorisches Universum, das sich da gerade Sommeliers und aufgeschlossenen Gäste eröffnet. Die Kategorien sind dabei für Laien ebenso undurchschaubar wie all die verschiedenen Fermentationsmethoden: von Kombucha über Sparkling Teas und Pét Nats bis hin zu Shrubs, die mithilfe von Milchsäure- oder Essiggärung zustande kommen. Ein Trend, der rasend schnell wächst. Die Mischung aus forciertem Gesundheitsbewusstsein in den sozialen Medien und verändertem Trinkverhalten vor allem beim jüngeren Publikum wirkt dabei wie ein Turbo. Von Self Care bis Sober, die Liste der öffentlich zelebrierten Befindlichkeiten ist lang, quasi als Gegenbewegung zum sinnbefreiten Komasaufen.

Auch wenn bei all den Start-ups, die gerade wie Pilze aus dem Boden schießen, von arrivierten Betrieben noch kein Rede sein kann – unter Proxy-Auskennern gilt Muri aus Kopenhagen als die ganz große Nummer: gegründet im Jahr 2020, ausgerechnet von Murray Paterson, der einst bei der Kopenhagener Destillerie Empirical Spirits werkte, und dem Fermentationsexperten Ioakeim Goulidis, der zuvor im legendären Noma Fermentation Lab tätig war. Kopenhagen gilt schon jetzt als das Epizentrum in Sachen Fermentation. Während man im Noma damals nicht zuletzt mit diversen Fermentationen experimentierte, um dem Lebensmittelabfall Herr zu werden, geht es bei Muri ausschließlich darum, span­nende Getränke zu kreieren. Dabei werden verschiedene Fermentationstechniken angewendet, die später ­assembliert werden. Die beiden sind besessen davon, noch ­unentdeckte komplexe Aromen zu schaffen und die Grenzen des Geschmacks neu zu definieren. Selbst noch so schnöden Gemüseschalen oder Obstresten entlocken sie wahre Geschmacksexplosionen.

Aufwand der Herstellung meist unterschätzt

Dabei arbeitet man auch gerne mit hochdekorierten Gourmetrestaurants zusammen, wie zuletzt mit dem Four Horsemen in New York oder der französischen Starköchin Anne-­Sophie Pic. Die Kreationen tragen so poetische ­Namen wie Passing Clouds oder Fade to Black, dahinter verbirgt sich ein Mix höchst elaborierter Techniken. Nuala etwa, als Rotweinalternative gedacht, wird aus einer fein abgestimmten Mischung von fermentiertem Johannisbeertrester, Eichen-Kombucha, Kamillen-Wasserkefir und Keemun-Tee hergestellt und mit einem Hauch von Kiefer- und Feigenblatt-Kwas abgerundet. Da erübrigt sich dann auch die Frage, warum Proxies mitunter keine Schnäppchen sind. Kaum jemand ahnt, wie komplex und aufwendig fermentierte Getränke abseits des Diskonters zu produzieren sind. Letztlich zählt wie beim Wein auch die Qualität des Grundprodukts. Zudem ist es auch schwierig, größere Mengen zu produzieren. Mit industriell hergestellten Softgetränken oder einfachen Fruchtsäften ­haben solche Fermente rein gar nichts mehr gemeinsam. Dennoch wird Wein gemeinhin als hochwertig empfunden, während man antialkoholische Getränke gerne im Billigsektor verortet.

„Die meisten unterschätzen den Aufwand der Herstellung“, glaubt auch Konstantin Stefanik. Gemeinsam mit seiner Partnerin Anna Holzer, die ­eigentlich aus der Lebensmittelbranche kommt, gründete er 2020 Konanna. Das junge Paar lernte sich auf der Boku kennen und experimentierte zuvor mit alkoholfreien Bieren. Eine plötzlich eingetretene Sehbehinderung ließ Stefanik seinen bislang unbeschwerten Alkoholkonsum überdenken. Inzwischen produzieren die beiden Pét Nats auf Basis von Tee. Über zwei Jahre tüftelten sie an der Rezeptur. Keiner ihrer Sprudel hat mehr als drei Prozent Alkohol, dafür jede Menge Geschmack und Tiefgang.

Demnächst soll der erste komplett alkoholfreie Pét Nat auf Kräuter- und Blütenbasis auf den Markt kommen. Als Missionare in Sachen Alkoholverzicht sehen sich die beiden dennoch nicht: „Wir trinken weiterhin gerne guten Wein, aber halt nicht immer und nicht in rauen Mengen.“ Ihre Tees, allesamt handgepflückt und aus biologischem Anbau, beziehen sie aus Japan, China oder Sri Lanka. Durch Zugabe von Zucker und Hefen aus eigener Zucht setzen sie in der Flasche die Gärung in Gang. Wie bei hochwertigem Schaumwein bleibt die Hefe einige Monate in der Flasche, wird degorgiert und ohne Dosage, also ohne weitere Zuckerzugabe, aber auch ohne Schwefel abgefüllt. Das Ergebnis ist herrlich leicht, spritzig und besitzt trotzdem Tiefgang. Und vor allem: Es ist nicht süß. Das ist sicher der entscheidende Unterschied zwischen Fruchtsaft und komplexen Proxies.

Zunehmende Nachfrage, Neugierde und besondere Lebenssituationen

Inzwischen gibt es auch in Österreich Teeanbau. Der oberösterreichische Küchenchef Klemens Gold (Restaurant Rau) eröffnete kürzlich in Großraming den ersten heimischen Teegarten in Zusammenarbeit mit Bauern aus dem Alpenvorland. Er produziert unter dem Label Combuchont aus mit Zucker, Kräutern und getrockneten Früchten versetztem Tee eine alkoholarme Variante von Schaumwein. Aber auch Winzer probieren sich an den sogenannten Proxies, also Alternativen zu Wein: Das Gut Hardegg produziert mit Embrizzo eine Mischung aus entalkoholisiertem Wein und Kombucha, Robert Herbst, Lebensgefährte der bekannten Schaumweinproduzentin Christina Hugl, kreiert im Kamptal eine Mischung aus Minztee, Quitten- und Traubensaft.

Eine ähnliche Konstellation stellten auch die südsteirischen Winzer Andreas und Alexander Sattler jüngst vor. Warum sich ausgerechnet Weinmacher für alkoholfreie Alternativen interessieren? Zunehmende Nachfrage, Neugierde und zuweilen auch besondere Lebenssituationen, wie etwa bei Andreas Sattler: „Als meine Frau schwanger war, suchten wir vergeblich nach interessanten alkoholfreien Weinalternativen ohne Zucker und Kohlensäure, also haben wir halt gleich selbst eine produziert.“ Juste besteht aus Kräuter­auszügen wie Schafgarbe und Brennnessel, die man am Sattlerhof auch in der biodynamischen Bewirtschaftung verwendet, mit unterschiedlichen Temperaturen gebraut und kombiniert mit dem Saft einer alten Quittensorte.

Bislang musste man sich noch rechtfertigen, wenn man in Gesellschaft keinen Alkohol trank, um nicht als sektiererischer Abstinenzler und Spaßbremse zu gelten. Davon können auch Friederike Duhme und Lucas Matthies ein Lied singen, beide kommen aus der Weinbranche. Friederike war viel genannte Sommelière in Top-Betrieben, zuletzt im Esslokal in Hadersdorf am Kamp, Matthies Geschäftsführer einer bekannten heimischen Weinhandelskette. Das Umfeld, die ständige ­Verfügbarkeit von Wein und der berufliche Druck ließen sie immer öfter zum Glas greifen, bis sie merkten, dass sie ein Problem hatten. Sie zogen die Reißleine, gründeten mit kein & low ein Handelsunternehmen und vor Kurzem einen Shop in Wien, der ausschließlich hochwertige alkoholfreie und -reduzierte Getränke anbietet.

In ihrem Podcast Drinking Habits sprechen sie offen über ihren Umgang mit und nunmehr ohne Alkohol. Im Sortiment finden sich Proxies, die Wein nicht imitieren, aber eine ähnliche Komplexität aufweisen: Kombuchas, Sparkling Teas, Direktsäfte und eine kleine Auswahl an ent­alkoholisierten Weinen. Die meisten werden handwerklich hergestellt und sind aus hochwertigen, meist biologischen Zutaten. In dieser Hinsicht haben Proxies jetzt schon gegenüber klassischen Weinen die Nase vorn. Sie fallen unter das Lebensmittelgesetz, somit muss am Etikett peinlich genau angeführt werden, was tatsächlich drinnen ist.

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