Über dem Hafen von Cala Gonone leuchtet der Vollmond, während sieben Frauen auf Paolos Schlauchboot klettern. Würde der ehemalige Fischer die britische Bergführerin Tania Noakes nicht so gut kennen, hätte er nicht geglaubt, dass diese Gruppe tatsächlich um sechs Uhr morgens zur Bucht von Cala Sisine aufbrechen möchte. Doch die sportlichen Touristinnen haben ein ambitioniertes Programm. Tania wird mit ihnen einen wildromantischen Klettersteig absolvieren, der mit vier Abseilstrecken als abenteuerlichster von Sardinien gilt. Die Via Ferrata Punta di Plumare folgt einstigen Pfaden von Schafhirten durch uralte Steineichenhaine auf einem langen Felsvorsprung zur senkrechten Plumare-Wand des Supramonte-Gebirges, die zum türkis leuchtenden, glasklaren Meer abfällt.
Doch zuerst müssen die gut gelaunten Frauen vom Bug des Schlauchboots auf die runden Kiesel des Strandes springen, ihre Rucksäcke schultern und den Einstieg finden. Hier gibt es keine Wegmarkierungen, Richtungspfeile oder Steinmännchen. Ohne professionelle Führung würde kostbare Zeit draufgehen. Tania kennt ihre Gruppe und weiß, dass alle die notwendigen Voraussetzungen erfüllen. „Du musst trittsicher und möglichst fit sein, solltest keine Höhenangst haben. Wenn du schon Erfahrung auf Klettersteigen gesammelt hast, ist das gut. Aber der Umgang mit den beiden Karabinern zum Sichern an einem fixen Stahlseil ist kinderleicht.“ Heute dabei ist Erin McLeod, sie stammt aus Schottland und kennt den Rückweg dieser Plumare-Runde. „Der letzte Abschnitt des Selvaggio Blu führt auch hier entlang. Ich wollte unbedingt den Klettersteig sehen, darum bin ich noch einmal hier.“
Wilde Küste, wilde Wege
In der Vorwoche war Erin Teil einer Wandergruppe, die von Tania fünf Tage lang auf wilden Pfaden entlang der Küste durch den Nationalpark geführt wurde. Der Selvaggio Blu ist eine weltweit bekannte Trekkingtour vom südlichen Ende des Golfs von Orosei nach Norden. Sie führt ohne fixe Wege durch die Wildnis und ist ohne Guide kaum zu finden. Tania will mit ihren Gästen nichts riskieren. „Der erste Tag des Programms zeigt den Gästen, ob sie fit genug sind, den Rucksack mit ihrer Ausrüstung täglich bis zu 1.200 Höhenmeter rauf- und runterzutragen. Wem dieser Probelauf zu viel ist, der kann einen Rückzieher machen.“
Ab dem zweiten Programmtag ist Umkehren nicht mehr möglich. „Wir übernachten manchmal ohne Zelt in Höhlen, machen Lagerfeuer, waschen uns in einem Bach und gehen im Meer schwimmen. Das ist Abenteuer pur.“ Mehrmals pro Jahr leitet Tania Gruppen durch dieses Labyrinth aus Fels, Buschwerk, Steineichen und Geröll. Erin scrollt durch die Fotos auf ihrem Handy und schwärmt: „Es sind tolle Bergerlebnisse und wunderschöne Badeplätze, wirklich einzigartig.“ Um zu den weltberühmten Buchten des Golfs von Orosei wie Cala Luna, Cala Fuili oder Cala Sisine zu gelangen, gibt es übrigens auch bequemere Wege. Mit dem Ausflugsboot kommen in der Hochsaison viele Badegäste an diese Plätze, die über soziale Medien populär wurden. In der Vor- und Nachsaison führen Wanderwege an diese einzigartigen Strände mit Sand oder runden Kieselsteinen.
Türme aus der Bronzezeit
Neben der atemberaubenden Natur sind es vor allem steinerne Vermächtnisse aus der Bronzezeit (1800 bis 500 v. Chr.), die Sardinien zu einem Ziel für Sightseeing machen. Bis zu 7.000 Steintürme wurden bisher freigelegt, mehr als doppelt so viele dürften es insgesamt sein, weil viele stark überwachsen und noch nicht entdeckt sind. Der höchste Turm misst 25 Meter und ist das einzige UNESCO-Weltkulturerbe Sardiniens: Die Nuraghe Su Nuraxi beim kleinen Dorf Barumini nördlich von Cagliari stammt aus dem Jahr 1500 v. Chr. Su Nuraxi ist der besterhaltene und prominenteste Nuraghenkomplex und daher auch der meistbesuchte. Archäologen ordnen die Gebäude dieser Anlage beispielsweise als Wachtürme, rituelle Kultstätten oder Handelszentren ein.
Wer sich nicht online anmelden und in Besucherschlangen stehen möchte, kann viele kleinere, aber dennoch sehr interessante Nuraghen besichtigen. Bei vielen ist kein Eintritt fällig, wie beispielsweise auf dem Weg vom Flughafen Olbia zum Golfo D’Orosei. Links an der Landstraße SP38 bei Kilometer 19 nahe Dorgali ist ein kleiner geschotterter Parkplatz, eine Tafel verweist auf die prähistorische Fundstätte Tomba di Giganti hin. Ein wackeliger Pfeil zeigt auf ein Gatter, das nach dem Durchgehen wieder sorgfältig geschlossen werden soll. In der Nähe grasen Schafe, gut behütet von bellenden Hirtenhunden, während ihr Hirte im Schatten eines einsamen Baumes ein Nickerchen macht. Er lebt eine Tradition, die hier 7.000 Jahre Geschichte hat und noch immer sehr präsent ist. Rund drei Millionen Ziegen und Schafe ziehen über die Weiden auf Sardinien.
Wer ein paar Hundert Meter einem Pfad folgt, gelangt zu einem prähistorischen Massengrab, und es sind keine, wie wörtlich übersetzt nahe läge, Riesengräber. Das Grab von S’Ena und Thomes wurde 1977 restauriert, nachdem Grabräuber zuerst da gewesen waren. Wer vor der vier Meter hohen Stele am Eingang des Grabes steht, fragt sich garantiert, wie Menschen vor mehr als 3.000 Jahren eine sieben Tonnen schwere Granitplatte bearbeitet, transportiert und hier mitten in einer Wiese aufgestellt haben.
Ferkel neben dem Weg
Eine andere Fundstätte liegt am Hang oberhalb von Cala Gonone, die Nuraghe Mannu. Über eine Schotterstraße gelangt man dorthin. Gleich daneben wühlen hinter einem Zaun Schweine mit Ferkeln im Erdreich. Sie werden eines Tages als Spezialität auf dem Teller des Agriturismo Nuraghe Mannu landen. Was früher ein Bauernhof war, ist jetzt Hotel, Campingplatz und Restaurant mit fantastischem Ausblick auf das smaragdgrüne Meer vor Cala Gonone.
Eine außergewöhnliche Tour für Reisende mit gutem Schuhwerk (und Gelsenspray) ist die Wanderung zur Ruine von Tiscali im Lanaittu-Tal, mitten im Supramonte-Gebirge. Es gibt zwei verschiedene Zugänge mit unterschiedlich anspruchsvollen mehrstündigen Routen, die gut markiert sind. Wer auf Nummer sicher gehen will, kann einen geführten Ausflug buchen, jedenfalls lohnt sich der Marsch bergauf durch Steineichenwälder zu dieser außergewöhnlichen ehemaligen Siedlung. Sogar knapp vor dem Ziel ist nicht zu erkennen, wo hier ein Dorf sein soll. Ein paar Schritte noch, dann schweift der Blick über eine riesige eingestürzte Höhle mit freiem Blick zum Himmel. Unter den großen überhängenden Wänden der eingestürzten Doline Sa Curtigia de Tiscali kleben Mauerreste von 40 Steinhütten wie Vogelnester unter den Wänden. Manche sind rund, manche eckig, was genau dort passierte, ist nicht gewiss. Bis zu 200 Menschen sollen dort gelebt haben. Warum sie so weit weg von der Wasserversorgung sesshaft geworden sind, ist nicht geklärt. Bekannter ist, wer heute in vielen uralten Nuraghen wohnt. Eulen und Eidechsen schätzen, wenn die menschlichen Gäste mit dem Sonnenuntergang abziehen und der Fauna ihren ungestörten Lebensraum lassen.
Tiefe Schlucht
Wer gerne zu Fuß unterwegs ist, kann in der Nähe gleich eine zweite Wanderung einplanen. Bei der Sa-Barva-Brücke (an der SS 125, 15 km von Dorgali) am Rio Flumineddu startet ein Spaziergang in den spektakulären Canyon Gola Su Gorroppu. Entlang des grünen Flusses gelangt man vorbei an großen Felsblöcken und durch enge Passagen zum Eingang der Schlucht und kann Kletterer beobachten, die wie Geckos an den 500 Meter hoch aufragenden Kalkwänden kraxeln. Sobald allerdings Tafeln auf Helm und Klettersteigausrüstung hinweisen, ist Schluss für Spaziergänger. Dann heißt es umdrehen, damit kein Steinschlag die Urlaubsfreuden verdirbt.
Wer bereits in den Alpen Klettersteigerfahrung gesammelt hat, wird in der Gorroppu-Schlucht viel Spaß haben. Ein Tagesprogramm, für das es sich durchaus lohnen kann, an einer geführten Tour teilzunehmen, denn man braucht feste Schuhe, Sitzgurt, Helm, Klettersteigset mit zwei Karabinern und genügend Wasser in der Trinkflasche. Diese Sportler wählen den Einstieg am Genna-Silana-Pass (SS 125, km 183) gegenüber dem Hotel Silana. Gemütlich geht es abwärts in die Schlucht, doch nach der Besichtigung des sardischen Grand Canyons wird es auf dem Rückweg bergauf ausgesetzt und anstrengender.
In der Nebensaison sollte man die Augen offen halten. Im Supramonte-Massiv graben nicht nur Wildschweine in den ausgedehnten Steineichenwäldern, den letzten naturnahen Wäldern dieser Art am Mittelmeer. Hier leben Mufflons, Rotwild und Wildschweine, allesamt kleiner als am Festland. Am Himmel ziehen sardische Bussarde ihre Kreise und mit Glück erspäht man einen Gänsegeier, der sich vom Westwind hertragen ließ. Diese Vögel haben jedenfalls den schönsten Ausblick auf den Golf von Orosei.