schauvorbei.at: Was bedeutet Medienkompetenz bei Kindern?
Barbara Buchegger: Beim Begriff der Medienkompetenz gibt es mehrere Ebenen. Zum einen die technische. Das bedeutet, dass ich in der Lage bin, Geräte, Programme und Tools zu bewerten und zu erkennen, in welcher Situation sie hilfreich oder nützlich sind. Dazu zählt auch einzuschätzen, welche Herausforderungen oder riskante Situationen sich durch die Nutzung ergeben können.
Die zweite ist die inhaltliche Ebene der Medienkompetenz. Diese gibt Antwort auf die Fragen: Was beurteile ich und wie? Welches Spiel ist gut für mich und welches nicht? Welche rechtlichen Grenzen gibt es? Was ist für mich geeignet? Zum Beispiel gibt es komplexere Spiele, die mehr Zeit in Anspruch nehmen und kurzweiligere. Vor einer Mathematikschularbeit sollte man eher eines wählen, dass sich in den Pausen zwischendurch einbinden lässt. Weiters bedeutet diese Kompetenz, zu wissen, wie man selbst Medien produzieren kann und was welchen Nutzen und Effekt hat. Dieses Wissen differiert je nach Alter und je nachdem, wie Kinder gefördert werden. Durch Förderung kommt es oft dazu, dass diese Kinder öfter zu den aktiven Medienproduzenten gehören und besser verstehen, wie diese Dinge funktionieren.
Ich kann hier ein Beispiel aus meiner Beratungsfunktion bei saferinternet.at geben: Wir hatten eine Mutter, die ihrem neunjährigen Sohn sagte: „In dem Ausmaß, in dem du Handyspiele konsumierst, musst du auch lernen, sie herzustellen.“ Grund dafür war, dass er so lernte, wie sie funktionieren und wie er sich besser vor speziellen Spielmechanismen, die süchtig machen und einen an Plattformen binden, schützen kann. Diese nennt man Dark Patterns. Er besuchte dazu Programmworkshops. Damit er diese besuchen konnte, wurde natürlich viel Zeit investiert und Eltern und Angehörige wurden eingebunden.
Wie kann man Medienkompetenz fördern?
Generell gilt: Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht, da sich Medien ständig ändern. Allerdings ist wichtig, den Kindern zu helfen, zu reflektieren und dahinterzukommen, wie Medien funktionieren. Auch hier gibt es zwei Ebenen.
Zum einen die passive Mediennutzung. Diese Förderung der Medienkompetenz kann ganz spielerisch geschehen, wie in einem Detektivspiel. Sie soll vor allem die Neugier ankurbeln. Dabei kann man Mutmaßungen aufstellen und gemeinsam nach Antworten suchen. Beispiele wären: Was macht passiver Medienkonsum mit mir? Warum will ich das tun? Was kann ich dagegen machen? TikTok hat beispielsweise einen Algorithmus, mit dem es als Nutzer sehr schwerfällt, aufzuhören. Dann kann man die Frage stellen: Warum ist das so? In etwa so, wie man sich früher mit klassischer Werbung in Magazinen oder im Fernsehen über Pudding und Kaugummi auseinandergesetzt hat, hinterfragt man nun soziale Medien und Plattformen. Das Alles sollte natürlich immer dem Alter des Kindes entsprechend geschehen. Außerdem sollte man als Elternteil immer ein offenes Ohr haben und ein Ansprechpartner sein.
Zum anderen gibt es die aktive Mediennutzung. Hier sollten Tools und Fähigkeiten für eine bessere Medienkompetenz erlernt werden. Zum Beispiel macht der Nachwuchs die Einladung zum 80. Geburtstag des Opas in Form eines Videos. Themen, die im Zuge dessen aufpoppen, sind rechtliche Aspekte wie das Urheberrecht.
Heißt das, ich soll mein Kind stundenlang vor dem Tablet sitzen lassen?
Nein, das heißt es nicht. Medienkompetenz bedeutet auch, zu wissen, was zu viel ist und wie viel sinnvoll ist. Vor dem dritten Lebensjahr sollte auf Medienkonsum verzichtet werden. Allerhöchstens sollte man sich gemeinsam Fotos über das Smartphone oder das Tablet ansehen. Dann folgt – je nach Alter – eine Staffelung.
Ich mache diese Tätigkeit schon sehr lange. Früher waren Volksschulkinder in der Lage, körperliche Grenzen selbst zu erkennen. Impulse, die sie früher öfter nannten, waren: „Ich möchte mich bewegen“ oder „Meine Augen brennen“. Heute bemerke ich, dass dem nicht mehr so ist. Gründe, warum Kinder die Mediennutzung heute beenden, sind: „Der Akku ist leer“, „Mama sagt, ich darf nicht mehr“ oder „Ich habe keine Internetverbindung“. Was fehlt, ist die Fähigkeit sich selbst einzuschätzen und den eigenen Körper zu fühlen. Ich sehe das als keine gute Entwicklung.
Es gibt große Unterschiede und nicht nur eine Patentlösung. Daher gilt auch hier: immer darüber sprechen.
Expertin von saferinternet.at Barbara Buchegger
Wie viel Medienkonsum ist zu viel?
Das ist natürlich von Kind, Alter und Situation abhängig. Es gibt auch hier keine allgemeingültige Formel. Kinder sind unterschiedlich. Ebenso die Inhalte, die sie interessieren. Klare Grenzen funktionieren für ein Kind gut, wenn sie auch sanktioniert werden, sobald sie übertreten werden. Andere Kinder versuchen sofort, diese zu hintergehen oder haben ein besseres Gefühl für sich selbst und hören von alleine auf. Wichtig ist, dass die Rahmenbedingungen passen und man je nach Situation und derzeitiger Belastung neue Regeln aufstellt. Denn wenn Kinder eine gewisse Reflexionsfähigkeit besitzen, werden sie ihren Medienkonsum selbst reduzieren. Zum Beispiel löschen sie dann von sich aus TikTok, bis die Mathematikschularbeit vorbei ist, um sich nicht abzulenken.
Autoritäre Maßnahmen sind natürlich auch vom Grad der Pubertät abhängig. Bleiben wir bei der anstehenden Mathematikschularbeit. Vor der Pubertät kann man noch eher Einfluss nehmen und nach einem Gespräch die App löschen. Ist der Jugendliche gerade mitten in der Pubertät, kann es schwierig werden, als Elternteil einfach zu entscheiden. Dann sollte man sich eher zurückhalten, da es sich sonst ins Gegenteil kehren könnte. Ich bemerke auch, dass bei Eltern, die bereits digital aufgewachsen sind, die Kommunikation über das Thema „Digitale Medien“ weniger wird. Das sehe ich als keine gute Entwicklung. Denn Kinder brauchen diese Gespräche.
Anzeichen, dass der Medienkonsum zu viel wird, sind, nicht zur Ruhe kommen zu können, eine sinkende Konzentrationsfähigkeit, sich nicht mehr anders beschäftigen zu können und keine Alternativen zu diesen Geräten mehr zu haben. Meistens sind die äußeren Umstände im Leben dieser Jugendlichen schrecklich. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Mobbing, Schwierigkeiten in der Schule, fehlenden Perspektiven, Unklarheiten über die Zukunft, schlechten Freunden, Zoff zu Hause und Scheidung der Eltern. All das kann dazu führen, dass dem analogen Leben entflohen wird. Es ist also als Ressource zu verstehen. Natürlich ist diese langfristig nicht sinnvoll, da sie nicht produktiv ist. Allerdings kann sie über einen gewissen Zeitraum einen Nutzen haben. Nehmen wir nur die Zeit der Pandemie. Viele Jugendliche sind in dieser Zeit online abgedriftet, da sie die Schule und die Maßnahmen in dieser Zeit als schlimm empfanden.
Wenn so etwas passiert, sollte man als Elternteil versuchen, bessere Perspektiven aufzubauen und Erfolgserlebnisse sowie generell schöne Zeiten zu erleben. Dazu gehören ganz klar Hobbys. Dabei sollte man sich überlegen: Was könnte mein Kind interessieren? Sind in den letzten Jahren neue Dinge dazugekommen? Welche Freizeitaktivität könnte mehr genutzt werden? Das kann alles sein – von Fußball über ein Musikinstrument bis hin zu Tennis oder Zeichnen. Wenn mein Kind zum Beispiel gerne Mangas mag, kann ich ihm anbieten, einen Zeichenkurs zu besuchen und dazu tolle Manga-Stifte zu besorgen, um es zu motivieren.
Welche präventiven Schutzmaßnahmen kann man setzen, damit ein Kind keine unangemessenen Inhalte sieht?
Bei den Jüngeren gibt es klare technische Schutzmaßnahmen. Außerdem kann man sich die Spiele als Elternteil vorher ansehen und ausprobieren. Zudem gibt es spezielle Plattformen oder Versionen der Plattformen, die man verwenden kann. Beispielsweise kann man bei YouTube die Version YouTube Kids einstellen.
Bei den Älteren hilft nur mehr das Gespräch. Denn wenn sie gewisse Schutzmechanismen oder Maßnahmen aushebeln wollen, dann werden sie das auch tun. Wir sprechen hier von Inhalten, die Themen wie Gewalt, Sexualität und politischen Extremismus in verschiedensten Ausformungen enthalten. Es gibt große Unterschiede und nicht nur eine Patentlösung. Daher gilt auch hier: immer darüber sprechen.
Social Media soll laut einigen Studien Schlafstörungen, Depressionen und Essstörungen fördern. Wie kann man dem entgegenwirken?
Indem man früh genug dem Kind Lebenskompetenzen vermittelt. Dazu gehört, dass das Handy oder das Tablet im Kinderzimmer bzw. im Schlafzimmer nichts verloren haben. Vor allem bei Schlafstörungen sollten mediale Geräte aus diesen Zimmern verbannt werden. Dann sollte der gute alte Wecker vorhanden sein und Musikmöglichkeiten abgesehen vom Handy. Vor allem vor dem Einschlafen ist Musik sehr beliebt bei der neuen Generation. Darauf sollte Rücksicht genommen werden. Ebenso wichtig sind bildschirmfreie Zeiten vor dem Schlafengehen. Diese Maßnahmen helfen vor allem dann, wenn man sie bereits früh in den Alltag der Kinder einbindet. Dadurch hat man große Chancen, dass sie auch in der Pubertät übernommen werden. Die Vorbildwirkung ist hier sehr wichtig. Auch das ist eine Form der Medienkompetenz.
Das Körperbild der Kinder wird nicht nur durch Social Media geprägt. Was ich vor allem beobachte, ist, dass der engste Familienkreis eine große Rolle spielt. Wenn das Kind zum Beispiel erzählt: „Papa sagt, Mama ist hässlich.“ Dann sieht man ganz deutlich, woher diese Einstellungen stammen. Wenn man aber erkennt, dass es daher kommt, dass bestimmte Inhalte auf Instagram gesehen werden, dann kann man gewissen Accounts entfolgen, um dieses verzerrte Bild nicht noch zu fördern. Eine gewisse Reflexionsfähigkeit muss vorhanden sein. Bei TikTok kann man beispielsweise den Algorithmus zurücksetzen und sich dann andere Inhalte ansehen, die positiv sind. Man kann also ganz neu anfangen.
Für Mental-Health-Themen Erklärungen zu finden, ist für viele Jugendliche ein Grund, sich diese auf sozialen Medien zu suchen. Zum Beispiel: „Ich kann mich nicht konzentrieren, also habe ich ADHS.“ Dazu finden sich unzählige Videos. Die Erklärungen, die unter den Reels zu finden sind und woran man diese Krankheiten erkennen kann, sind oberflächlich und falsch. Je mehr solcher Beiträge man abonniert – und sei es nur aus Interesse – desto mehr bekommt man angezeigt und desto extremer werden sie. Denn Inhalte müssen auffallen, damit man sie ansieht. Man kommt in die sogenannte Bubble und der „Rabbit hole effect“ stellt sich ein. Konsumiert man diese Inhalte andauernd, kann sich das Gefühl einstellen, dass es scheinbar normal ist, ADHS zu haben. Es kommt zu einem relativierenden Verhalten.
Wenn man selbst das Gefühl hat, in der Welt von TikTok, Instagram und Co. nicht mehr mitzukommen: Wie soll man dem eigenen Kind Kompetenzen vermitteln?
Im Vergleich zu früher muss man sagen, es sind jetzt einfach andere Medien verfügbar, die auf Algorithmen basieren und somit auch personalisierter sind als die Massenmedien vor 10 oder 20 Jahren. Heutzutage kommt es darauf an, wie gut Jugendliche in der Lage sind, sich abzugrenzen.
Indem man über diese Dinge spricht, Lebenserfahrungen teilt und Fragen stellt, kann man Medienkompetenz auf beiden Seiten aufbauen und erarbeiten. Außerdem ist es gut, sich Dinge vom Nachwuchs zeigen zu lassen. Auch das gehört dazu. Jedes dieser Netzwerke wird anders erlebt. Wichtig ist, das Gesagte nicht abzuwerten. Aussagen wie: „Was für ein Blödsinn!“ haben hier nichts verloren. Wichtig ist, Anteil zu nehmen, den Nachwuchs auch mal als Experten anzusehen, gemeinsame Interessen zu fördern und sich auch mal helfen zu lassen.
Der neueste Trend ist die Verwendung von KI, und im Speziellen Chat GPT. Wann sollte man da eingreifen?
Von den 11- bis 17-Jährigen, die auf den sozialen Medien unterwegs sind, nutzen laut einer von uns aktuell durchgeführten Umfrage 70 Prozent bereits Chat GPT. Das ist natürlich ein Thema, das man besprechen muss und Jugendliche berichtigen, wann die Nutzung nicht mehr sinnvoll ist. Vor allem die Frage: „Wann ist die Verwendung okay und wann ist sie nicht mehr in Ordnung?“ muss man offen klären. Forderungen an sie zu stellen, ist meiner Meinung nach berechtigt.
Wenn es um das Thema Schule geht, sollte man sich auch darüber informieren, wie die Lehrer darüber denken. Denn manche finden es okay, die Rechtschreibung in Word zu prüfen oder generell den Aufsatz mit Chat GPT zu verbessern. Andere wiederum finden es nicht in Ordnung, da so die Leistung des Schülers nicht mehr erkennbar ist. Ich erlebe in meinem Beruf beide Seiten. Grundsätzlich ist es aber eher so, dass es als Kompetenz angesehen wird, in der Lage zu sein, sich Tools zu suchen, damit die Aufgabe bewältigt werden kann.
Allerdings sehe ich bei anderen Formen ein Problem. „My AI“ von Snap Chat zum Beispiel stellt alles zur Verfügung, von einem wichtigen Unterhaltungs- bis hin zu einem Kommunikationsinstrument. Dabei sollte man Kindern deutlich kommunizieren: „Bitte, seid vorsichtig mit privaten Daten.“ Denn auch Gesundheitsfragen werden dort beantwortet. Selbst wenn man die typische „Ich frage für einen Freund“-Floskel verwendet, kann das Programm Rückschlüsse ziehen. Außerdem gibt es meistens keine brauchbaren Antworten. Viel eher sollte man sich an Beratungsstellen wenden. Es ist ein Unterhaltungstool und ein Programm, um Geschichten zu erzählen, keine medizinische Beratung. Besser, man tippt in eine Suchmaschine ein, wo man fachlich kompetente Hilfe bekommt.
Danke für das Gespräch!