Da lebt man seit Jahrzehnten in Wien und stellt plötzlich fest, dass man den südöstlichen Zipfel Südböhmens noch gar nicht kennt. Dabei sollte sich jeder diese unbekannte und verschlafene Mikroregion gönnen, wenn man seine Work-Life-Balance mal feinjustieren will. Die dünne Besiedelung, diese urige Landschaft, die Lust auf Wanderschuhe, Drahtesel und Hufeisen macht, sowie die Mixtur aus bemerkenswerter Architektur und vielfältiger Kultur haben es in sich. Und dann ist es ja auch nur ein Katzensprung bis zu diesem Zipfel, in dem sich das Gratzener Bergland breitmacht.
Buquoys sind omnipräsent
Worauf man, abgesehen von kräftigen Bieren, in diesem Teil Südböhmens immer wieder trifft, ist das Adelsgeschlecht der Buquoy, das die an das Mühl- und Waldviertel grenzende Region enorm geprägt hat. Auch in der in der Mitte des 13. Jahrhunderts gegründeten gotischen und später im Barockstil renovierten Burg Nové Hrady residierten die Buquoys. Sie thront auf einem Felsvorsprung oberhalb des Flusses Stropnice in der gleichnamigen Stadt Nové Hrady (Gratzen). Die Buquoys wurden während des Dreißigjährigen Kriegs (1618–1648) von Kaiser Ferdinand II. unter anderem mit den deutschen Herrschaften Gratzen und Žumberk (Sonnberg) belehnt – der Urknall der Entwicklung einer Region, die von diesem Adelsgeschlecht französischen Ursprungs aufs nächste Level gehoben wurde. Sie modernisierten die Landwirtschaft, errichteten Schulen, förderten soziale Einrichtungen und traten als Mäzene von Architektur und Kunst auf. Es ist eine besondere Erfahrung, sich vom Burghof aus durch ihre einstigen Gemächer und Salons sowie ihre Bibliothek führen zu lassen. Erst die Vertreibung des Adels nach dem Zweiten Weltkrieg beendete 1945 die Herrschaft der Buquoys.
Eiserner Vorhang, grüne Oase
Die Stadt Nové Hrady mit ihren rund 2.500 Einwohnern befindet sich in den Höhenzügen des Gratzener Berglands und nur vier Kilometer vom Grenzübergang Pyhrabruck entfernt. Und damit auch von der Freilichtausstellung „Grenzschutz und Eiserner Vorhang“, die an persönliche Schicksale rund um die brutale Trennlinie aus Stacheldraht, Wachtürmen und Minenfeldern erinnert, die Europa in zwei unversöhnliche Lager spaltete. Nicht weit
vom Museum wurden am Morgen des 26. September 1960 die Brüder Josef und Helmut Vítů beim Fluchtversuch erschossen.
Noch heute sieht man neben dem Museum die Drahthindernisse, die damals unter gewaltiger Spannung standen. Dort, wo seinerzeit die Grenzer patrouillierten, kann man jetzt einen Fahrradweg entlangcruisen. In den zwei kleinen Räumlichkeiten des Museums hängen die Uniformen und Schusswaffen der einstigen Grenzbeamten. Obwohl einem hier kalt ums Herz wird, will man mit deren Wolldecken auf den Eisenbetten, mit denen sie sich einst wärmten, nicht in Berührung kommen. Sickern lassen wir diese Bilder im wunderschönen „Apatyka Café“, das nur einen Steinwurf entfernt vom Hauptplatz Nové Hradys liegt und das Interieur der einstigen barocken Apotheke übernommen hat.
Nach einer kurzen Fahrt erreicht man die Parklandschaft Theresiental, die mit ihren Wäldern und Wiesen, ihren Denkmälern und einem imposanten Wasserfall zu ausgedehnten Spaziergängen einlädt. Klar, dass uns auch hier die Buquoys unterkommen, waren es doch Graf Johann Nepomuk Buquoy und Ehefrau Theresia, die im 18. Jahrhundert dieses grüne Kleinod schufen und peu à peu mit Gebäuden wie dem „Wenzelsbad“ oder dem „Blauen Haus“, in dem Maria Theresia gern urlaubte, anreicherten. Rund 70.000 Besucher zieht es alljährlich in dieses Naturjuwel. Wenn der Wasserfall im Winter zum Eisfall erstarrt, ist besonders viel los. Mit mir ist nach diesem langen Tag nicht mehr viel los. Die paar Stufen zu meinem Zimmer im Hotel Rezidence gehen sich aber noch aus.
Bürgermeister als Stadt-Guide
Dass Vladimír Hokr, Bürgermeister von Nové Hrady, am nächsten Tag persönlich durch die Stadt führt, macht einen Recherche-Cyborg wie mich glückselig. Der Mann, der schon als Lehrer, Reiseleiter und Basketballtrainer werkte, weiß als studierter Historiker exakt alles über seine Stadt. Wir lernen noch das 1806 erbaute Schloss, die Kirche St. Peter und Paul, das Rathaus im Renaissancestil sowie eine Familiengruft der Buquoys kennen. Und den Bürgermeister selbst auch ein bisschen. Dass er als Jugendlicher einem kommunistischen Kommandanten einen cholerischen Anfall bescherte, weil er und seine Freunde sich bei offenem Fenster mit extrem lauter US-amerikanischer Rockmusik einen Scheitel zogen, lässt uns alle sehr schmunzeln.
Wenn man schon in der Gegend ist, darf man sich die Wallfahrtskirche Maria Trost in Dobrá Voda, die auch „Südböhmisches Lourdes“ genannt und von vielen Österreichern angesteuert wird, nicht entgehen lassen. Errichtet wurde sie von 1706 bis 1715, um eine kleine, auf einer Heilquelle erbauten Kapelle zu ersetzen. Nachdem das Wallfahrten während des Kommunismus zum Erliegen kam, durften die Pilger nach der Wende 1989 in Dobrá Voda ein Comeback feiern, um seelische Stärkung und körperliche Genesung zu erlangen. Die körperliche Stärkung wiederum ist es, die uns zur Einkehr in der „Penzion Marie“ in Žumberk bringt.
Kastellan und Punk
Der etwa zwölf Kilometer westlich von Nové Hrady gelegene Ort Žumberk (Sonnberg) ist bemerkenswert: zum einen, weil es zwei Brauereien für lediglich 24 vermutlich sehr glückliche Bewohner gibt, zum anderen wegen seiner Festung, die im 15. Jahrhundert von den Herren von Žumberk erbaut wurde, ab 1620 im Besitz der Buquoys war und im 17. Jahrhundert im Renaissancestil umgebaut wurde. Kastellan Roman Josefik führt uns durch das einzigartige Wehrdorf-Ensemble. Das darin eingerichtete Museum verzückt mit Gemälden aus dem 18. und 19. Jahrhundert und bemalten, südböhmischen Volksmöbeln.
Wenn Josefik nicht gerade die Festung managt, knechtet er als Vorstand der Punkband „Rozladěn“, was so viel wie „Ich bin nicht gut drauf“ heißt, seine Stimmbänder. Da wir sehr wohl noch gut drauf sind, besuchen wir auch die Hammerschmiede Buškův hamr nahe der Stadt Trhové Sviny – die einzig öffentlich zugängliche und mit Wasserkraft betriebene Schmiede Südböhmens. Die vor knapp 200 Jahren erbaute Einrichtung am Bach Klenský war berühmt für die Herstellung von Qualitätswerkzeug und bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Betrieb. Da es sich um ein funktionstüchtiges Denkmal handelt, kann man bei guten Wasserverhältnissen die gesamte Einrichtung in Betrieb sehen. Eine Ausstellung zeigt Werkzeuge, ein Wohnteil gewährt Einblicke in das Leben der Menschen, die hier im 19. Jahrhundert unter härtesten Bedingungen arbeiteten. Schließlich geht es nach Trocnov, einem Ortsteil der Stadt Borovany, wo man auf den Spuren des berühmten tschechischen Kriegsherren Jan Žižka wandelt.
Ausflug in die Geschichte
Hier ist dessen Geburtsstätte mit Denkmal und Museum. Der Anführer der Taboriten, einer sozialrevolutionären und militärisch kompromisslosen Gruppierung der hussitischen Bewegung, wurde um 1360 geboren. Wie die Menschen zur Zeit der reformatorischen und revolutionären Hussiten im 15. Jahrhundert in einem typischen Dorf lebten, zeigt ein vor zwölf Jahren auf dem Gelände eröffnetes Freilichtmuseum. Auch ein Besuch des ehemaligen Augustinerklosters Borovany ist für uns noch ein wichtiges To-do. Es wurde 1455 nach den Hussitenkriegen (1419–1434) als erstes Kloster in Böhmen gegründet und 1785 von Kaiser Joseph II. aufgelöst. Während das Gebäude heute als Kulturzentrum der Stadt dient, finden im malerischen Klostergarten regelmäßig Feste statt.
Es gibt immer viel zu feiern in diesem kleinen Zipfel Südböhmens. Und jede Menge zu entdecken. Da kenne ich jetzt nur die Spitze des Eisbergs. Deshalb werde ich garantiert wiederkommen.