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3. Mai 2024
Lifestyle

Die Kunst der Selbsthypnose: Expertin teilt ihre Geheimnisse für autogenes Training

Man kennt es: Stress, Anspannung und der fehlende Ausschalter für die Gedankenspirale regieren den Alltag. Mit autogenem Training lässt sich Entspannung gezielt üben. Klinische- und Gesundheitspsychologin Natalie Leier erklärt, wie es funktioniert und was es zu beachten gilt – inklusive Praxistipps.

Frau sitzt zwischen unzähligem Pflanzen an einen zart-türkisfarbenen Kaminsims gelehnt. Sie ist blond, trögt blaue Jeans und hat die Augen für autogenes Training geschlossen.
Autogenes Training sorgt sowohl in stressigen Situationen, als auch im Alltag für mehr Entspannung. © Getty Images

Zwischendurch einfach mal abschalten und sich egal wo ruhig und gelassen fühlen – das wäre schön. Kein Problem, denn autogenes Training erarbeitet genau das: Durch das Umschalten von körperlichen vegetativen Funktionen wie Durchblutung, Pulsschlag und Atmung kommt man durch eine Art der Selbsthypnose in einen Zustand der Entspannung. Dieser wird nicht wie bei der progressiven Muskelentspannung indirekt über einen willkürlichen Prozess, das bewusste Anspannen der Muskeln, erreicht. Vielmehr gelangt man über gedankliche Konzentration zur Ruhe.

Klingt ein bisschen nach Humbug? Keineswegs! Denn Gedanken schaffen Nervenimpulse und können so helfen, in einen tiefen Entspannungszustand zu kommen. Während man bei der Hypnose geleitet wird, ist autogenes Training als Teil der Selbsthypnose eine gut erforschte Entspannungsmethode. Sie bringt den Körper mithilfe spezieller Formeln in einen tiefen Ruhezustand. Klinische- und Gesundheitspsychologin Natalie Leier hat bereits langjährige Erfahrung auf dem Gebiet des autogenen Trainings in ihrer Praxis und wendet es auch gerne selbst im Alltag an. Im schauvorbei-Interview spricht sie über die Methode und gibt eine Reihe von Tipps für einen gelasseneren Alltag.

Auf welchem Konzept beruht autogenes Training?
Das Wort „autogen“ kommt aus dem Griechischen. „autos“ bedeutet „selbst“ und „genos“ bedeutet „entstehen“. Es entsteht also etwas aus dem Selbst. Die Grundstufe des autogenen Trainings basiert auf sieben aufeinander aufbauenden Übungen: Ruhe, Schwere, Wärme, Atmung, Herz, Bauchwärme und Stirnkühle. Man erlernt unter anderem, körperlich und gedanklich zur Ruhe zu kommen, Arme und Beine schwer und warm werden zu lassen und sich durch ruhige Atmung schnell und zuverlässig zu entspannen. Die Methode gibt es ungefähr seit 100 Jahren. Sie ist gut erforscht und die Wirksamkeit ist vielfach belegt. 

Wenn wir von der Entspannungsmethode sprechen, meinen wir die Grundstufe des autogenen Trainings. Es gibt jedoch auch die Mittelstufe und die Oberstufe. Im Rahmen der Mittelstufe kann man Formeln für individuelle psychische und physische Ziele oder Themen entwickeln. Diese hängt man als Affirmationen an die Grundstufe an. In der Oberstufe wird psychotherapeutisch gearbeitet. Die Autogene Psychotherapie ist eine eigene Richtung. Sie nutzt Entspannung, um in weiterer Folge mit Imaginationen Themen zu bearbeiten.

Wann sollte man autogenes Training verwenden?
In unserer schnelllebigen Zeit geht es oft hektisch zu. Familie, Beruf, Haushalt und Freizeit unter einen Hut zu bekommen, stellt zunehmend eine Herausforderung dar. Viele Menschen fühlen sich dauerhaft gestresst und überreizt. Die Anzahl an stressbedingten körperlichen und psychischen Erkrankungen steigt immer mehr an. Entspannung und innere Ruhe kommen im Alltag viel zu kurz, wodurch das innere Gleichgewicht ins Wanken gerät. Man fühlt sich unzufrieden, unausgeglichen oder sogar krank. Eine Entspannungsmethode zu beherrschen, um den eigenen Stressoren entgegenzuwirken, ist in der heutigen Zeit sehr zu empfehlen.

Tatsächlich kann das autogene Training in allen herausfordernden, stressreichen Situationen ein gutes Instrument sein, um wieder ins innere Gleichgewicht zu kommen. Es dient der körperlichen und geistigen Erholung, bekämpft Stresssymptome, innere Anspannung und Nervosität, hilft bei Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen, bei Schmerzbelastung, Ängsten, psychosomatischen Beschwerden und vielem mehr. 

In meiner Praxis, in der ich mich auf Schlafberatung für Babys und Kleinkinder spezialisiert habe, lehre ich autogenes Training bei Bedarf gestressten, übermüdeten Eltern zur inneren Ressourcenstärkung. So können sie geduldiger auf den Nachwuchs eingehen, diesen bei den geplanten Veränderungen liebevoller begleiten und selbst einen erholsameren Schlaf bekommen. Man sagt, zehn Minuten autogenes Training bringen dieselbe Erholung wie ein einstündiger Mittagsschlaf. 

Welche Vorteile erhält man durch die Übung der Methode?
Bei regelmäßiger Durchführung steigt spürbar die eigene Entspannungs- und Erholungsfähigkeit. Erfahrene Anwender beschreiben eine innere Gelassenheit und bessere Stressresistenz, welche sich positiv bei Schlafproblemen und Unruhezuständen auswirken. Zusätzlich kann man eigene Fähigkeiten optimal ausnutzen und sogar eine Leistungssteigerung erreichen. Aus diesen Gründen kommt es häufig sowohl in der Schule und im Studium als auch im Leistungssport zum Einsatz.

Aus meiner Sicht ist der größte Vorteil des autogenen Trainings, dass die Entspannung aus einem selbst erzeugt wird. Nach dem Erlernen werden keine Hilfsmittel benötigt und es muss keine besondere Körperposition eingenommen werden. Ich kann mich selbst beruhigen, keine andere Stimme oder Person wird benötigt. Das macht tatsächlich einen großen Unterschied! In der Psychologie verwenden wir den Begriff Selbstwirksamkeit. Das bedeutet, ich selbst kann wirksam sein. Auf das autogene Training übertragen bedeutet es: ich kann meinen Körper und meine innere Zustand beeinflussen. Sich nicht hilflos zu fühlen, sondern immer ein Werkzeug bei sich zu haben, das einem hilft – allein dieses Wissen und das damit verbundene Vertrauen ist unglaublich stärkend. Seit meinem Erlernen vor 20 Jahren während meiner Studienzeit ist diese Entspannungsmethode auch mein treuer Wegbegleiter geblieben.

Kann man autogenes Training auch alleine lernen?
Es ist nicht unmöglich, jedoch braucht man Geduld und Struktur. Nach meiner Erfahrung geben viele Anwender beim selbständigen Erlernen zu früh auf. Das Lernen unter Anleitung in der Gruppe oder im Einzelsetting hat sich auf jeden Fall besser bewährt. Dabei werden die Teilnehmer im richtigen Tempo angeleitet. Nach jedem Übungsdurchgang werden Empfindungen und Trainingserfahrungen reflektiert und Hilfestellungen bei Schwierigkeiten angeboten. Zunehmend lernen die Teilnehmer die selbstständige Anwendung – dies ist ja der Grundgedanke des autogenen Trainings. All das führt zu besseren Trainingseffekten und erfolgreiche Integration in den Alltag.

Wann braucht es Experten, die jemanden führen?
Sobald es sich um krankheitswertige Themen handelt oder die Mittelstufe zur Unterstützung Anwendung finden soll, ist das Erlernen unter Anleitung eines Experten auf jeden Fall sinnvoll, da individuell auf die Person eingegangen werden kann. Im neurologischen Bereich sollte man die Formeln individuell anpassen, weil zum Beispiel eine Lähmung oder Missempfindungen in Armen oder Beinen besteht. Manchmal muss man die Vorgehensweise auch aus anderen Gründen überdenken. Bei Menschen mit starken Angstsymptomen mit Fokus auf innere Prozesse, macht es unter Umständen Sinn, zu Beginn auf die Herzübung zu verzichten. Kommt die Mittelstufe zur Anwendung, erarbeitet man die Formeln für eigene Ziele gemeinsam und integriert sie in den Übungsprozess.

Inwiefern kann man mit autogenem Training schlechte Verhaltensmuster durchbrechen?
Im Allgemeinen lernt man durch das autogene Training Stress abzubauen und sich selbst zuverlässig zu beruhigen. Diese innere Ruhe kann man in einem Veränderungsprozess gut gebrauchen. Weiters fördern selbst entwickelte Zusatzformeln aus der Mittelstufe die innere Motivation und wirken bestärkend. Sowohl zur Gewichtsreduktion, als auch zur Raucherentwöhnung oder Behandlung anderer Suchterkrankungen kann autogenes Training unterstützend eingesetzt werden. Im psychologischen oder psychotherapeutischen Setting ist es eine effektive zusätzliche Maßnahme.

Wie lange und wie oft sollte man die Übungen für wirksames autogenes Training durchführen?
In der Übungsphase wird empfohlen mehrmals täglich drei bis fünf Minuten zu üben. Erfahrungsgemäß machen das jedoch die wenigsten. Aber selbst bei drei Übungseinheiten pro Woche stellen sich die erwünschten Trainingseffekte ein. Wer dran bleibt, erlernt es auf jeden Fall. Es ist wie beim Klavierspielen lernen: je mehr geübt wird, desto eher werde ich gut, in dem was ich tue. Beherrscht man das autogene Training, kann man es bei Bedarf in Stresssituationen anwenden. Eine präventive, das heißt vorbeugende Anwendung, hat sich besonders bewährt. Denn wir wissen, dass regelmäßige Anwender über eine höhere Stresstoleranz und Gelassenheit verfügen und diese ihre Belastungen dadurch effizienter bewältigen oder sogar frühzeitig abfedern können. 

Ab wann beginnt man in der Regel einen Unterschied zu merken?
Ein Entspannungseffekt ist für viele bereits beim ersten Üben zu spüren, auch wenn sich zum Beispiel noch kein Schwere- oder Wärmegefühl einstellt. Bei anderen dauert es länger, weil gedankliche Prozesse einfach zu dominant sind und sie sich leicht ablenken lassen. 

Bei regelmäßigem Üben wird die Entspannungsfähigkeit mit jedem Mal ausgeweitet. Man kann sich besser fokussieren und zunehmend schneller in die Entspannung finden. Für Geübte reichen oft ein paar Minuten, um in eine tiefe Entspannung zu kommen. Zur Unterstützung beim Einschlafen kann das Erlernte sofort angewendet werden. Für eine zuverlässige Anwendung in herausfordernden Situationen, wie beispielsweise vor Prüfungen, ist eine gewisse Übung erforderlich.

Es kann davon ausgegangen werden, dass man die Grundstufe des autogenen Trainings nach einem Gruppen-Kurs von sechs bis acht Wochen, mit einer wöchentlichen Trainingseinheit, gut beherrscht. Im Einzelsetting reichen manchmal sogar vier bis fünf Einheiten.

Welche fünf Übungen kann man einfach selbst durchführen, um entspannter im Alltag zu sein?
Übung 1: Versuchen Sie es gleich mit der ersten Übung des autogenen Trainings, der Ruheübung. Schließen Sie Ihre Augen und sagen Sie sich in Gedanken monoton immer wieder den Satz „Ich bin ganz ruhig“. Lassen Sie diesen auf sich wirken. Mit der Zeit kommen Sie zunehmend gedanklich und körperlich zur Ruhe. Störende Gedanken bekommen dadurch weniger Platz. Sollten Sie gedanklich abschweifen und dies bemerken, kommen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit wieder zur Ruheformel zurück.

Übung 2: Setzen oder legen Sie sich hin und beobachten Ihren Atem. Sie können unterstützend auch beim Einatmen das Wort „Ein“ und beim Ausatmen das Wort „Ausatmen“ innerlich vorsagen. Das führt dazu, dass die Phase des Ausatmens immer etwas länger dauert als das Einatmen. Dies wirkt beruhigend und man bleibt dadurch eher bei der Sache. Die beruhigende Wirkung durch das Beobachten des Atems wird auch beim autogenen Training in einer eigenen Übung genutzt.

Übung 3: Legen Sie sich entspannt hin und stellen Sie sich vor, wie Arme und Beine zunehmend schwer werden, mit jedem Ausatmen schwerer. Innere Vorstellungen können hier unterstützend wirken, wie zum Beispiel die Vorstellung, der ganze Körper sinkt immer tiefer in die Unterlage oder die Schwerkraft wirkt besonders stark auf Arme und Beine. Alle Muskeln können sich nun entspannen, Verspannungen dürfen sich lösen. Die Erreichung dieses Schweregefühls ist bereits das Ziel der zweiten Übung des autogenen Trainings.

Übung 4: Bringen Sie mehr Achtsamkeit in Ihr Leben! Konzentrieren Sie sich mehrmals täglich in Alltagssituationen auf die Wahrnehmung Ihrer Sinne und genießen Sie diese Momente in vollen Zügen: Hören, welche Geräusche in der Natur herrschen, sich bewusst auf Farben oder Gerüche konzentrieren, ein Bad nehmen und das warme Wasser auf der Haut spüren, ein Schokoladenstück bewusst und genussvoll essen. Wir sind gedanklich sehr oft in der Zukunft oder in der Vergangenheit und leider viel zu selten in der Gegenwart. Nur im Hier und Jetzt ist das Erleben von genussvollen Momenten möglich.

Übung 5: Schreiben Sie jeden Abend 3 Dinge auf, die heute gut waren – nicht mehr und nicht weniger. Diese Übung kommt aus der positiven Psychologie und wirkt stimmungsaufhellend. Der Grund dafür ist nicht nur, dass wir mehr Positives im Alltag bemerken und diese Momente besser im Gedächtnis bleiben, sondern auch, dass wir mehr Positives in unser Leben lassen bzw. selbst erzeugen. In einem Buch notiert, entsteht so eine tolle Sammlung von schönen Momenten und Dingen, wofür wir dankbar sind. Zusätzlich schlafen wir mit diesem Fokus auf das Gute leichter ein.

Danke für das Gespräch.