An einem Wochenende Mitte September werden die Bregenzerwaldbesucher von Glockengebimmel geweckt. Ein Blick aus dem Fenster auf den Dorfplatz von Mellau bringt Gewissheit: Nein, man ist nicht aus Versehen auf einer Wanderung eingeschlafen, sondern es ist Almabtrieb. Am Ende des Sommers werden die Kühe von den kräuterprallen Bergwiesen hinab ins Tal geleitet. Um ihre Köpfe ranken sich Blumenkränze. Falls eine vom rechten Weg abkommt, wird sie von Männern und Frauen mit baumstammdicken Waden sanft zurückgeklopft.
Am Straßenrand verteilt die Dorfjugend Schnaps, vor dem Sportfachgeschäft spielt eine Musikkapelle. Für dieses Spektakel werden kilometerlange Straßen gesperrt, reisen Gäste aus allen Teilen des Landes, ach was, der ganzen Welt an. Es ist der Jahreshöhepunkt einer Region, die auch sonst ganz im Zeichen der Milchwirtschaft steht. Welchen Stellenwert Käse hier hat, zeigen die auf jeder Wirtshauskarte vertretenen Käsknöpfle, die unzähligen Wegweiser zu Molkereien, Sennereien und Käsehändlerinnen, aber auch das Kuriosum Käseklappe. Dort, wo anderswo Erdnussflips oder Mannerschnitten lagern, dürfen sich Hungrige unweit der Bezauer Seilbahn über gereiften Bergkäse freuen.
Schon die alten Römer dürften auf den Almen des Bregenzerwalds Käse hergestellt haben. Die Alemannen taten es ihnen gleich. Bis zum 17. Jahrhundert standen die Zeichen ganz auf Sauerkäse. Erst die Appenzeller lehrten die „Wälder“ nach dem Dreißigjährigen Krieg ihre Kunst des Fettsennens. Bis heute herrscht zwischen Sulzberg und Schröcken die als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnete Drei-Stufen-Landwirtschaft. Im Winter weiden die Tiere im Tal, im Frühsommer auf dem höher gelegenen Vorsäß, im Hochsommer auf der Alm, bevor es zum Herbst hin wieder abwärts geht. Bei aller Liebe zur Tradition hat aber auch die Gegenwart Platz. Wir haben Menschen besucht, die Käse anders, neu denken – oder vielleicht sogar wieder alt.
Von der Idee, am Ende des fünften Lebensjahrzehnts den Schwarzenberger Käsladen zu übernehmen, hielt Hedi Berchtolds Mann erst mal nichts. Dass sie es trotzdem getan hat, spricht wohl für jene Durchsetzungsfähigkeit, die den Bregenzerwälderinnen gerne nachgesagt wird. Rund zwanzig Sorten von drei Sennereien hat das auf dem Dorfplatz gelegene Lädchen vorrätig. Alle stehen zur Verkostung bereit. Bei der Qualität macht Berchtold, die an diesem Spätsommertag ein flaschengrünes Leinenkleid mit passenden Sandalen trägt, keine Kompromisse. In ihrem früheren Leben war sie Zahnarztassistentin. Sie half zunächst während des Sommers im Käsladen aus, machte eine Ausbildung zur Käsesommelière und übernahm schließlich 2007 das Geschäft.
Alles Wissenswerte hat sie von dessen Vor-Vorbesitzerin Maria Vögel gelernt, auch so eine toughe Wälderin. Den Laden führt sie im Geiste der Gründerin fort, als Begegnungsraum, wo immer jemand für einen Schwatz zu haben ist und es neben Käse auch hausgemachte Marmeladen und Berchtolds geheime Käsknöpfle-Mischung zu kaufen gibt. „Unsere Kundschaft besteht jeweils zur Hälfte aus Einheimischen und Touristen“, so Berchtold. Dass die Käsehändlerin dieses Jahr ihr Geschäft an ein junges Paar übergibt, hat einen profunden Grund: die wohlverdiente Pension. Endlich kann sie reisen und für ihren Enkel da sein. Der klebt, wie sie auf ihrem iPhone zeigt, „Warum musst du immer weg?“-Zettel an die Tür. Der Käsladen, so bleibt zu hoffen, wird auch ohne Berchtold eine Institution in Sachen regionalem Genuss bleiben.
Zum zehnten Geburtstag bekam Ingo Metzler eine trächtige Ziege namens Rosa. Aus deren Milch machte die Mutter Käse. Vor allem das Restprodukt ließ dem Sohn keine Ruhe: „Andere sind in die Disco gegangen. Ich habe Molkeexperimente durchgeführt.“ Diese gelblich-grüne Flüssigkeit wurde schon im Altertum bei Verdauungsstörungen eingesetzt. Hippokrates bezeichnete sie als „heilendes Wasser der Milch“, und im Alpenraum des 18. und 19. Jahrhunderts erfreuten sich sogenannte Molkekureinrichtungen großer Beliebtheit. Kein Wunder bei den rund 400 Inhaltsstoffen, darunter Vitamine, Spurenelemente und Mineralstoffe. Heutzutage kennen sie viele, allerdings nur noch in Form fruchtgesüßter Erfrischungsgetränke. Die hat auch Ingo Metzler, der vorarlbergerisch-entspannt sofort vom Sie zum Du übergeht, im Programm, aber eben noch viel mehr. „Eines meiner Jugendexperimente betraf Badezusätze, den Prototyp habe ich an die Verwandtschaft verschenkt.“
Inzwischen ist daraus eine Kosmetiklinie geworden, mit rund 100 Eigenprodukten von Lippenbalsam bis Muskelfluid. Essbares gibt es aber auch bei Metzler Molke. 18 Milchkühe und rund 100 Ziegen gehören zum an einem Steilhang des Örtchens Egg gelegenen, hochmodernen Betrieb. Dass dessen Betreiber vor allem auf Ziegenkäse steht, liegt daran, dass die entsprechende Milch mehr Mineralstoffe enthält und verträglicher ist als jene von Kühen. Und noch kostbarer, wenn man bedenkt, dass man für einen Kilo Käse nicht zehn wie bei der Kuh, sondern nahezu zwanzig Liter Milch benötigt. Entsprechend preisintensiv ist die Spezialität des Hauses, der sechs Monate alte Ziegenbergkäse. Auch Ziegenbutter und -rotschmiere, Ziegenräucherkäse und -mozzarella laufen unter Raritäten.
Metzler reicht eine Schale mit einer topfenartigen Masse, bestehend aus dem durch Erwärmung gewonnenen Molkeeiweiß. Seinen Namen hat dieser Ziger von dem gleichnamigen Kraut, das mit Salz, Pfeffer, Kümmel und Obstler vermengt und mit Kartoffeln oder, wie in unserem Fall, dem Molke-Dinkel-Brot des Bäckers Josef Künz verzehrt wird. Durch weiteres Einkochen entsteht aus der verbleibenden Flüssigkeit Sig, eine Art Molkekäse, auch bekannt als Wälderschokolade. Dass manche Ziegenmilch ein animalisches Aroma unterstellen, ist Metzler zufolge übrigens Relikt einer Zeit, als diese noch mit Stallluft in Berührung kam. Ein Ziegenbock hingegen müsse stinken, als Zeichen seiner Potenz.
„Make cheese, not war“ ist auf dem Bus zu lesen, mit dem Hilda Simma in die Einfahrt der stillgelegten Sennerei Moos rollt. Fast wie eine Galerie wirkt der Innenraum mit der türkisfarbenen Tür, den Pop-Art-Grafiken einer lokalen Künstlerin und den Kindheitserinnerungen von Kaugummizigaretten über Karamellbonbons bis hin zu einer Tiroler Limonade – wären da nicht die wuchtigen Kupferkessel, die abgedeckt als Blumengesteckablage dienen. „Früher hat man hier auf traditionelle Art Käse gemacht“, so Simma, eine mädchenhaft wirkende Frau im almwiesengrünen Leinenkleid. Heute ist dies der ein Mal pro Woche geöffnete Verkaufsraum für jene Produkte, die sie gemeinsam mit ihrem Mann vertreibt. Handgesennte Berg- und Alpkäse von einer Handvoll Genossenschaften, mindestens drei Monate von Melchior Simma gepflegt, sprich mehrmals die Woche händisch mit Salzlake eingerieben.
Zwischen 200 und 400 Laibe lagern im wenige Autominuten entfernten Käsekeller, der älteste ist drei Jahre alt, so alt, wie es Gut gereift im Bregenzerwald gibt. Sowohl Hilda als auch Melchior sind in landwirtschaftlichen Betrieben aufgewachsen. Letzterer hat viele Jahre lang im Bankensektor gearbeitet und freut sich heute über sein neues, minimalistisch-meditatives Leben, oder in seinen Worten: „Käse ist mein Yoga.“ Neben der Zeit, die die beiden ihren Käsen lassen, ist ihnen auch der Vertrieb ein Anliegen. Wer nicht das Glück hat, im Bregenzerwald zu wohnen und freitags auf einen Plausch im poppigen Verkaufsraum vorbeizuschauen, bestellt in Form digitaler Abnehmergesellschaften. „Familien tun sich ebenso zusammen wie Lehrerzimmer oder Stammtische“, verrät Hilda Simma. „Im Prinzip beleben wir so den auf Kooperation und Gemeinschaft ausgerichteten Grundgedanken des Sennereihandwerks wieder.“
90 Prozent des Umsatzes entsteht online, mit Ostösterreich als wichtigstem Markt. Aber auch Einzelhändler in Berlin bekommen Lieferungen. Neben einer fairen Preisgestaltung, von der auch Senner etwas haben sollen, spielen vor allem der Gemeinschaftsgedanke und die eigene Unabhängigkeit eine wichtige Rolle. „Die Arbeit mit dem Käse setzt eine gewisse Haltung voraus. Nämlich den Dingen seinen Lauf zu lassen und den Blick aufs Wesentliche zu richten. Letztendlich geht es immer um die gute Reife“, so die dreifache Mutter.
In der Schweiz hat sich die Frage, ob es einer Kuh mit Horn besser geht als ohne, bereits auf nationaler Ebene gestellt. Die Volksabstimmung über die Subventionierung fiel 2018 allerdings negativ aus. „Manche sind der Meinung, die Milch von Hornkühen sei bekömmlicher“, so Johannes Metzler. Er lässt es sich auch bei ortsuntypischen 32 Grad nicht nehmen, mit dem Fahrrad zum Gesprächstermin zu kommen. Vor sieben Jahren hat er auf Anregung eines Kunden begonnen, mit der Milch von horntragenden Kühen zu experimentieren.
Sein Hornkäse besteht aus der Milch jener Bauern, die zwei Mal täglich persönlich mit der Kanne in dem Egger Betrieb vorbeikommen. Rund 1.500 Liter Milch sind das pro Tag, die von Hand in zwei traditionellen Kupferkesseln gesennt werden. Einer ist ausschließlich für die Hornkuhmilch, damit es nicht zur Vermischung kommt. Berechtigte Frage: Warum werden Kühen überhaupt die Hörner entfernt? „Auf diese Weise können mehr Tiere auf weniger Raum gehalten werden, weil sie sich nicht gegenseitig verletzen können“, so der forsch-freundliche Käsemacher.
Wichtig ist ihm zu betonen, dass die Bauern das nicht aus Lust an der Tierquälerei tun. Als gesichert gilt, dass die Hörner als durchblutete Organe eine Funktion haben. So beeinflussen sie unter anderem Temperaturregulierung und Verdauung. „Die Vermutung liegt nahe, dass ein hornloses Tier unter permanentem Stress steht, weil es sich weniger gut verteidigen kann. Ein Stress, der eine Auswirkung auf die Milch haben dürfte. Fest steht, dass sie eine veränderte Eiweißstruktur aufweist.“ Nun die große Frage: Schmeckt man das auch? Metzler verneint. „Nicht mal ich selbst könnte die Hornkuhmilch sensorisch von der konventionellen unterscheiden.“
Dass Erstere trotzdem so gut bei seiner Kundschaft ankommt – von rund 700 jährlichen Käselaiben entfällt darauf ein Drittel, Tendenz steigend –, lässt sich mit Gründen des Tierwohls ebenso erklären wie einer allgemeinen Sehnsucht nach Ursprünglichkeit. „Vor fünfzig Jahren hatte jede Kuh Hörner. Ist das jetzt innovativ?“ – eine Frage, die im leichten Widerspruch zur Hornkäse-Website steht, wo es heißt „Wir sind altmodisch“ und von feinstofflichen Energien der Hornkuhmilch die Rede ist. So oder so ist es eine Entscheidung – wenn auch nicht auf nationaler, sondern täglicher Mikroebene.
Das Kipferlhaus in Wien heißt so, weil dort angeblich erstmals das entsprechende Gebäck aus dem Ofen kam. Im Keller dieses hinter dem Stephansdom gelegenen Gebäudes lagern 170 Käselaibe. Jeder ist knapp 30 Kilo schwer. „Das Ziegelgewölbe wirkt feuchtigkeitsausgleichend, gleichzeitig verändert der Käse den Raum. Durch die Wechselwirkung wird der Käse von Jahr zu Jahr besser.“ Anton Sutterlüty, ein Mann, der mit seinen kinnlangen grauen Haaren auf Pressefotos eine aristokratische Eleganz ausstrahlt, wurde schon als Kind auf der elterlichen Bregenzerwälder Alm ins Käsehandwerk eingeführt. Erst mal arbeitete er allerdings in Wien als Kunstvermittler. In seiner Freizeit reifte er Käse, und zwar auf so traditionelle Art, wie er sie von Kindesbeinen an gewohnt war.
„Das Wetter spielt eine große Rolle. Wenn es warm ist, arbeitet die Milch viel schneller und man muss eher bremsen. Es braucht viel Intuition.“ Irgendwann stellte sich für ihn die Frage: Ganz oder gar nicht? Der Egger entschied sich für Ersteres. Mit dem Gewinn der Millionenshow finanzierte er den Beginn der Selbstständigkeit. Heute ist er beides, Produzent und Händler. In der Vorsäß-Saison findet man ihn auf den Almen seiner Heimat. Von seinem Lohn als Angestellter kauft er Käse, dem er dann in seinem Wiener Keller zur Perfektion verhilft. Gleichzeitig importiert er unter dem Namen Anton macht italienischen Rohmilchkäse von drei verschiedenen Kooperativen, der auf dem Wiener Kutschker- und Karmelitermarkt zu haben ist.
Aktuelle Favoriten? „Der Castelmagno, dessen Herstellung sieben Tage inklusive Bröseln, Salzen, Fermentieren und sauren Molkebads dauert. Sehr speziell! Abgesehen davon liebe ich den Blu di Capra und den Pecorino von Salvatore und Gianfranco Bussi aus dem sardischen Macomer. Im Piemont machen zwei Schwestern einen fantastischen Ziegenkäse mit Safran. Den kriege ich aber leider nur selten, wenn ich die beiden persönlich treffe. Auf der berühmten Käsemesse Cheese in Bra ist es wieder mal so weit.“ Zugegeben: Seinen eigenen einjährigen Rohmilchalpkäse findet er auch mehr als passabel.
Draußen auf der sattgrünen Wiese bimmeln die letzten Kühe vor sich hin, die noch nichts vom unmittelbar bevorstehenden Almabtrieb ahnen. Drinnen hieven Menschen Germknödel und Käsknöpfle auf Plastiktabletts. Auf den ersten Blick wirkt das Gasthaus Niedere Alpe wie ein SB-Imbiss. Tatsächlich wird hier eine Spezialität angeboten, für die ältere Talbewohner extra in die Seilbahn steigen. Im Prinzip handelt es sich bei der Sennsuppe um ein Abfallprodukt. Frische Molke wird erhitzt und mit saurer Molke gemischt, wobei Eiweiß entsteht. Dieses wird abgeschöpft und wieder mit klarer Molke vermischt. Fertig ist die Suppe! Den Käse macht Leo Feuerstein auf traditionelle Art in jahrzehntealten Holzfässern. Über Nacht ruht darin die Milch der rund 30 eigenen Kühe.
„Diese sogenannten Gebsen enthalten eine Vielzahl gutartiger Mikroorganismen. Kein Vergleich zu den toten Kühlwannen der konventionellen Produktion“, so Feuerstein, ein im ersten Kontakt etwas schroff wirkender Mann, der auf 45 Jahre Käseherstellung zurückblicken kann. Am nächsten Morgen wird der Rahm zu Butter verarbeitet und die Milch zusammen mit Lab und frischer Morgenmilch erhitzt, wodurch sie sich von der Molke trennt. Die Käseharfe macht daraus erbsengroße Körner. Nach einer weiteren Erwärmung wird der Käse mit einem Tuch aus dem Kessel geholt, gepresst und zu Laiben geformt. Es folgt die Pflege, mindestens drei Monate lang, im Extremfall sogar drei Jahre. All das geschieht in einer wenige Meter vom Gasthaus entfernten Alphütte, mit Unterstützung des Schwiegersohns.
Nun zur Feuerstein’schen Spezialität: Die Molke wird auf 90 Grad erhitzt und dann als Sennsuppe genossen, ganz ohne Gewürze. Eine simple Freude, gesund und verdauungsfördernd, die allerdings bei den Jüngeren nicht mehr so gut ankommt. Verkauft hat der Käser seine Suppe nie, sondern an alle verschenkt, die diesen „Seagen“ zu schätzen wussten. „Früher waren das schon mal zehn Portionen pro Tag, heute vielleicht noch zwei pro Woche“, so Feuerstein.
Artikel aus A La Carte 06/2023.